Überblick über Hares Zwei-Ebenen-Theorie des moralischen Denkens

Moralisches Denken setzt sich zusammen aus intuitivem Denken und kritischem Denken. Beides ist notwendig und zusammen hinreichend für moralisches Denken. [1]

INTUITIVES DENKEN (INTUITIVE EBENE) KRITISCHES DENKEN (KRITISCHE EBENE)
Prolet: Er verwendet nur intuitives Denken und ist unfähig zu kritischem Denken (MT e45/d92) Erzengel: Er wendet nur kritisches Denken an, besitzt übermenschliche Geisteskräfte und Kenntnisse sowie keinerlei menschliche Schwächen; ‚idealer Beobachter’, ‚idealer Vorschreiber’ (MT e44/d91).
Intuitives Denken ist regelutilitaristisch. (MT e43/d90, HC 227) Kritisches Denken ist handlungsutilitaristisch. (MT e43/d90)
Intuitive Prinzipien sind notwendig:

– um alltägliche moralische Entscheidungen zu treffen (B 18, E 221, 223)
– um in der Vielzahl möglicher Situationen handlungsfähig zu sein (und nicht jede Situation von Grund auf neu durchdenken zu müssen) (MT e36ff./82ff.)
– um nicht bei jeder Entscheidung der Versuchung zu einem Plädoyer in eigener Sache ausgesetzt zu sein (MT e38/d84f.)
– um denjenigen von uns, die in einer konkreten Situation nicht wie Erzengel denken können, so etwas wie ein brauchbares Näherungsverfahren an die Hand zu geben (MT e46/d94)
– für die moralische Erziehung (R 198f.).

=> Intuitive Prinzipien sind nur notwendig, um unseren menschlichen Schwächen entgegenzuwirken. Der Gesamtnutzen in einer Gesellschaft ist größer, wenn sich alle Personen (vorwiegend) an intuitives Denken halten, anstatt zu versuchen, ständig kritisches Denken anzuwenden.
Kritisches Denken ist notwendig:

– um Konflikte zwischen intuitiven Prinzipien zu lösen (MT e40, 50/d86f., 97f.; E 223)
   (Wegen ihrer unbegrenzten Spezifität und unterordnenden Kraft kann es keine Konflikte zwischen kritischen Prinzipien geben.)
– um Entscheidungen zu treffen in Fällen, in denen die intuitiven Prinzipien nicht anwendbar sind (E 223)
– um die intuitiven Prinzipien auszuwählen (und damit zu begründen) (MT e45, 50/d92f., 97, E 223).
Intuitive Prinzipien sind nicht hinreichend:

– weil sie zu unlösbaren Konflikten führen (MT e26, 70/d39, 86)
– wie sie nicht in allen Situationen anwendbar sind (MT e39/d86f., E 223)
– weil sie sich nicht selbst begründen können (MT e40/87)
   d. h. wenn gefragt wird,
   – welche Intuitionen/intuitiven Prinzipien wir haben sollen,
   – welche Pflichten wir anerkennen sollen,
   – was der Inhalt einer vernünftigen moralischen Erziehung ist,
   kann intuitives Denken nicht weiter helfen, da es selbst in Frage gestellt wird (B 17).
Kritisches Denken ist nicht hinreichend:

– weil es für Menschen (aus Mangel an Zeit, Wissen, Intelligenz, Distanziertheit von den eigenen Interessen) unmöglich ist, jede neue Situation kritisch zu durchdenken (bzw. weil der Versuch, dies zu tun zu einem insgesamt schlechten Ergebnis führen würde).
(Bei Erzengeln ist kritisches Denken notwendig und hinreichend für moralisches Denken. (MT e46/d93))
Eigenschaften der intuitiven Prinzipien:

Logische Eigenschaften:
– universell präskriptiv (MT e41/d88)
– relativ einfach und allgemein (unspezifisch), denn
   – sie müssen erlernbar sein (MT e35/81)
   – um als praktischer Führer nützlich zu sein, müssen sie so unspezifisch sein, daß sie eine Vielzahl von Situationen mit bestimmten gemeinsamen Merkmalen abdecken (MT e36/d82)
– nicht unterordnend (overriding), denn
   – es gibt Fälle, in denen ein intuitives Prinzip einem anderen untergeordnet wird (MT e57/d106), d. h. intuitive Prinzipien lassen Ausnahmen zu in dem Sinne, daß es möglich ist, sich weiterhin an sie zu halten und trotzdem zuzulassen, daß man sie in besonderen Fällen brechen darf (MT e59/d108)
   – es gibt Fälle, in denen ein intuitives Prinzip einer nicht-moralischen Vorschrift untergeordnet wird (MT e60/d109).

Psychologische Eigenschaften:
– Sie hängen „aufgrund unserer Erziehung mit sehr starken und tiefreichenden Dispositionen und Gefühlen zusammen“ (MT e338/d85), d. h. sie sind tief verwurzelt in unserem Charakter (P 97) und werden zu unserer zweiten Natur (HC 259, B 19)
   => Ein Verstoß gegen sie hat Gewissensbisse und Reue bzw. falls andere dagegen verstoßen, Empörung zur Folge (P 97).
– Sie sind eine notwendige Vorkehrung gegen Plädoyers in eigener Sache. (MT e38/d84f., B 19) Aufgrund dieser psychologischen Eigenschaften sind intuitive Prinzipien keine bloßen Faustregeln. (MT e38/d85, E 223, P 97, B18f., 54, HC 223f., 259)
Eigenschaften der kritischen Prinzipien:

– universell präskriptiv (MT e41/d88)
– von unbegrenzter Spezifität (MT 41/d88)
– unterordnend (overriding)
“Critical principles are what would be arrived at by leisured moral thought in completely adequate knowledge of the facts, as the right answer to a specific case.” (E 221)
Auf der kritischen Ebene kommen keine moralischen, sondern nur sprachliche Intuitionen vor. Moralische Entscheidungen werden ausschließlich durch die logischen Eigenschaften der moralischen Wörter und durch nicht-moralische Tatsachen bestimmt. (MT e40/d87)

Moralisch rationale Handlung: Diejenige Handlung, die am wahrscheinlichsten richtig ist (selbst wenn sich hinterher herausstellt, daß sie nicht richtig war). Die moralisch rationale Handlung wird fast immer diejenige sein, die mit den intuitiven Prinzipien übereinstimmt, denn diese wurden genau zu dem Zweck ausgewählt, damit dies der Fall ist. (E 224f.)

Moralisch richtige Handlung: Diejenige Handlung, die mit den kritischen Prinzipien übereinstimmt, welche durch erschöpfendes, vollständig informiertes und klares Denken über spezielle Fälle gewonnen wurden. (E 225)

Kritisches Denken wählt intuitive Prinzipien aus, die inhaltlich identisch sind mit den Regeln des Regelutilitarismus.

Bei der Entscheidung, welche moralischen Regeln wir auf der intuitiven Ebene verwenden sollten, „ist es ganz richtig, wie Hare tatsächlich behauptet, daß der handlungsutilitaristische und der regelutilitaristische Ansatz zu den gleichen moralischen Entscheidungen führt. Dies ist so, weil die Wahl zwischen zwei alternativen moralischen Regeln logisch äquivalent ist zu der Wahl zwischen der Handlung, die erste moralische Regel anzunehmen und der Handlung, die zweite moralische Regel anzunehmen. Anders gesagt, wenn wir auf der kritischen Ebene zwischen zwei alternativen moralischen Regeln wählen und selbst wenn wir bei dieser Wahl den handlungsutilitaristischen Begriffsrahmen verwenden, wird uns dies in keiner Weise daran hindern, die sozialen Wirkungen jeder Regel, einschließlich ihrer Erwartungseffekte, zu berücksichtigen.“ (Harsanyi, HC95, meine Übersetzung)
„Ich stimme zu, daß Harsanyis und meine Methode im Fall (1) (sc. bei der Entscheidung, welche moralischen Regeln wir auf der intuitiven Ebene verwenden sollten) zu denselben moralischen Entscheidungen führen.“ (Hare, HC244, meine Übersetzung)

Die moralisch rationale Handlung wird fast immer diejenige sein, die mit den intuitiven Prinzipien übereinstimmt.

=>   Wir sollen uns bei unseren moralischen Entscheidungen, außer in außergewöhnlichen Fällen, an die intuitiven Prinzipien halten.

        Um dies zu gewährleisten, sind die intuitiven Prinzipien mit starken Gefühlen und Dispositionen verknüpft und sind deshalb keine bloßen Faustregeln.

Daraus ergeben sich folgende Vorteile von Hares Zwei-Ebenen-Theorie:

1. Die intuitive Ebene ist regelutilitaristisch und Hares Theorie kann deshalb, ebenso wie der reine Regelutilitarismus, die Erwartungseffekte erfüllen.

2. Da die intuitive Ebene regelutilitaristisch ist, treffen die gewöhnlichen Einwände, daß der Handlungsutilitarismus zu kontraintuitiven moralischen Entscheidungen führt, auf Hares Theorie nicht zu, denn

– wenn die von den Gegnern des Handlungsutilitarismus vorgebrachten Beispiele realistisch und nicht ungewöhnlich sind, dann sollten sie auch nach Hare durch intuitive Prinzipien entschieden werden und es kommt zu keinem Konflikt mit unseren Intuitionen, und wenn die Beispiele so ungewöhnlich sind, daß sie durch kritisches Denken gelöst werden sollen, dann sind kontraintuitive Ergebnisse kein Argument gegen Hares Theorie, da sich auch die Gegner des Utilitarismus ihrer Intuitionen in solch außergewöhnlichen Fällen nicht sicher sein können. (MT131f./193f.)
– aufgrund ihres hohen Akzeptanz-Nutzens kann Hare (auf der intuitiven Ebene gültige) individuelle Rechte und Verpflichtungen etablieren und begründen. (U153f./216f.)

3. Da die intuitiven Prinzipien in besonderen Fällen verletzt werden dürfen, trifft der gegen den Regelutilitarismus vorgebrachte Einwand der Regelverehrung auf Hares Theorie nicht zu.

4. Da die intuitiven Prinzipien wegen ihrer Nützlichkeit ausgewählt werden, kann Hare, im Gegensatz zu den Intuitionisten, unsere Intuitionen begründen und erklären. (MT137/200, HC208f., 270, 288, 291)

Die Punkte (1) und (2) gelten nur, wenn die Trennung der zwei Ebenen stabil ist, d. h. wenn tatsächlich die meisten moralischen Entscheidungen intuitiv getroffen werden.

Nach Hare gibt es jedoch kein Kriterium dafür, wann man intuitiv und wann kritisch denken soll (MT 45E/92f., 52/100).
Diese Entscheidung hängt von zwei subjektiven Faktoren ab:
– vom Selbstvertrauen und der Selbsteinschätzung des Handelnden,
– davon, wie tief verwurzelt die intuitiven Prinzipien im Handelnden sind.

Argumente gegen die Stabilität der Trennung der zwei Ebenen:

1) Die Ausprägung dieser zwei Faktoren unterscheidet sich von Person zu Person. Sobald also mehr als eine Person an einer moralischen Entscheidung beteiligt ist, werden wahrscheinlich Konflikte darüber auftreten, auf welcher Ebene entschieden werden soll. Falls solche Konflikte auftreten, kann eine richtige Entscheidung des moralischen Problems nur noch auf der kritischen Ebene stattfinden. => Je mehr Personen an einer moralischen Entscheidung beteiligt sind, um so instabiler wird die Unterscheidung zwischen intuitiver und kritischer Ebene. => Als Entscheidungsmethode ist die Zwei-Ebenen-Theorie höchstens für Einzelpersonen, die für sich moralische Entscheidungen treffen, anwendbar.
Sobald jedoch die moralischen Entscheidungen mit schwerwiegenden Konsequenzen verbunden sind, wird auch jede einzelne Person vernünftigerweise vom kritischen Denken Gebrauch machen und sich nicht auf die einfachen intuitiven Prinzipien verlassen. D. h. eine Person wird nur relativ banale moralische Entscheidungen auf der intuitiven Ebene treffen.
=> Der Anwendungsbereich des intuitiven Denkens ist sehr eingeschränkt und es ist deshalb unwahrscheinlich, daß es die von Hare postulierte nützliche Funktion erfüllen kann.

2) Die Trennung der Ebenen kann nur dann aufrechterhalten werden, wenn die intuitiven Prinzipien an starke moralische Gefühle, Dispositionen usw. geknüpft sind. Wenn aber bekannt ist, daß die moralisch richtige Handlung diejenige Handlung ist, die mit kritischen Prinzipien übereinstimmt und intuitive Prinzipien nur dazu dienen, die Wahrscheinlichkeit richtigen Handelns zu vergrößern, ist es zweifelhaft, daß jemand intuitive Prinzipien mit starken moralischen Gefühlen verbindet.

3) Da es kein Kriterium dafür gibt, wann intuitiv und wann kritisch gedacht werden soll, gibt es auch kein Kriterium dafür, wann es moralisch rational ist, auf die eine oder andere Weise zu denken. Da die moralisch richtige Handlung nur durch kritisches Denken bestimmt wird und es kein Kriterium gibt, wann kritisches Denken rational ist, kann niemand dafür getadelt werden, wenn er meistens kritisch denkt auch wenn er dabei häufig intuitive Prinzipien verletzt. D. h. die Verletzung intuitiver Prinzipien durch kritisches Denken kann nicht sanktioniert werden. Ohne Sanktionen können die intuitiven Prinzipien aber nicht aufrechterhalten und nicht an starke moralische Gefühle geknüpft werden. (Die intuitiven Prinzipien können nur bei der Erziehung und bei ihrer Verletzung aus unmoralischen Motiven sanktioniert werden.)

 

Es kann nie falsch sein, kritisch zu denken. Handlungsutilitaristisches kritisches Denken kommt jedoch oft zu einem anderen – kontraintuitiven – Ergebnis, als regelutilitaristisches intuitives Denken. Diese Divergenz kann nur minimiert werden, wenn bei jeder handlungsutilitaristischen Entscheidung die institutionenschwächende oder -fördernde Wirkung der Handlung berücksichtigt wird. (Hare glaubt, daß fast jede Handlung solche Wirkungen hat. HC245) Dies ist jedoch in Hares Theorie nicht möglich:
Um in einer konkreten Situation zu entscheiden, welche Handlung moralisch richtig ist, muß ich die Präferenzen der von meiner Handlung betroffenen Personen unparteiisch nach ihrer Stärke gewichten. Um dies tun zu können, muß ich mich in die Lage jeder Person versetzen (usw.).
Die institutionenschwächende Wirkung einer Handlung (z. B. des Brechens eines Versprechens) ist aber keine Eigenschaft der Handlung, die die Abwägung der Präferenzen, wenn ich mich in die Lage der betroffenen Personen versetze, beeinflussen kann. Durch welche Präferenzen der betroffenen Personen soll die institutionenschwächende Wirkung repräsentiert werden? D. h. es ist nicht möglich, die institutionenschwächende Wirkung einer Handlung bei der Präferenzabwägung durch irgendwelche Präferenzen zu repräsentieren.
=> Die institutionenschwächende Wirkung einer Handlung ist bei der Entscheidung (in einer konkreten Situation), welche Handlung moralisch richtig ist, völlig irrelevant.


[1]      Abkürzungen: B: Essays on Bioethics, E: Essays on Ethical Theory, HC: Hare and Critics, MT: Moral Thinking, P: Essays on Political Morality, R: Essays on Religion and Education.