Thomas Nagels Argumentation in The Possibility of Altruism

Im folgenden Text versuche ich eine Argumentationslinie aus Thomas Nagels Erklärung der Möglichkeit von Klugheit und Altruismus herauszuarbeiten. Nagels Argumentation besteht aus vielen, zum Teil voneinander unabhängigen Begründungen einzelner Sätze und deren Einordnung in einen Argumentationszusammenhang. Da das Ziel dieses Textes die Darstellung dieses Argumentationszusammenhangs ist, werden die Begründungen einzelner Sätze des Arguments nur so weit dargestellt, als es nötig ist, um die Sätze selbst und ihren Zusammenhang zu verstehen. Nagels Begründung dieser Sätze gewinnt an Plausibilität durch seinen Nachweis der Unplausibilität ihnen widerstreitender Sätze. Ich werde jedoch nur Nagels konstruktive Argumente zur Stützung seiner eigenen Position berücksichtigen.

 

Die Objektivität der Ethik hängt davon ab, daß der motivierende Einfluß moralischer Überlegungen nicht auf kontingenten Neigungen beruht, sondern wesentlich mit den moralischen Prinzipien selbst und ihren Wahrheitsbedingungen verknüpft ist, so daß er für jeden unausweichlich (inescapable) ist. (6)[1] Eine Begründung dafür, moralisch zu sein, die die Objektivität der Ethik in diesem Sinn garantiert, ist nicht möglich: Entweder führt eine solche Begründung moralische Prinzipien auf motivierende Einflüsse wie Eigeninteresse oder Sympathie zurück. Dann gilt die Begründung aber nur für Menschen, die tatsächlich durch diese Einflüsse motiviert werden, und die Objektivität der Ethik hängt von der empirischen Annahme ab, daß dies auf alle Menschen zutrifft.[2] Oder man führt die Ethik auf von empirischen Annahmen unabhängige rationale Forderungen zurück. Da solche Forderungen selbst nur wieder durch andere rationale Forderungen begründet werden können, verliert sich dieser Begründungsversuch in einem unendlichen Regreß. (3f.) Eine Erklärung der grundlegenden Prinzipien der Ethik dagegen ist möglich. Da moralische Forderungen stets Handlungsanforderungen sind, muß diese Erklärung, um mit der Objektivität der Ethik im Einklang zu sein, die Unausweichlichkeit der moralischen Forderungen durch die Unausweichlichkeit der für Handlungsanforderungen nötigen motivierenden Kraft erklären. (4f.) Es muß also gezeigt werden, (i) daß es ebenso wie es rationale Anforderungen des Denkens gibt, es auch rationale Anforderungen des Handelns gibt und die Empfänglichkeit für bestimmte motivierende Einflüsse deshalb eine Bedingung rationalen Handelns ist, und (ii) daß bestimmte moralische Prinzipien solche Rationalitätsbedingungen ausdrücken. Wenn dies gezeigt ist, gilt, daß die Nichtbeachtung dieser Motive und die sich daraus ergebende Nichtbeachtung der moralischen Prinzipien irrational ist. (3) Zur Grundlage der Ethik wird somit eine apriorische Motivationstheorie, die keine empirischen Verallgemeinerungen menschlicher Motivation, sondern Bedingungen rationalen Handelns aufdeckt. (5)[3]

I. Klugheit

1. Handlungsgründe motivieren zu Handlungen (definitorische Festlegung).

Da die Annahme, daß jemand einen Grund zum Handeln und dennoch keinerlei Motivation zu handeln hat, unplausibel ist (28), wird im folgenden davon ausgegangen, daß Handlungsgründe zur Ausführung der in Frage stehenden Handlung motivieren.
Für Vertreter einer belief-desire Theorie folgt daraus, daß Überzeugungen allein keine Handlungsgründe sein können, sondern nur zusammen mit gegenwärtig vorliegenden Wünschen (desires) zu Handlungen motivieren. Angewandt auf kluges Handeln bedeutet dies, daß das Wissen, daß etwas im zukünftigen eigenen Interesse ist, nur zu Handlungen in der Gegenwart motivieren kann, wenn in der Gegenwart ein Wunsch vorliegt, die Befriedigung der eigenen zukünftigen Interessen zu fördern. Für altruistisches Handeln gilt entsprechend, daß das Wissen, daß eine Handlung die Interessen anderer fördert oder befriedigt, nur zur Ausführung der Handlung motivieren kann, wenn gleichzeitig ein Wunsch vorliegt, diese Interessen zu fördern. (28)

2. Nicht jedem Handlungsgrund liegt ein motivierender Wunsch zugrunde.

Sobald jemand absichtlich ein Ziel verfolgt, ist es kraft dieses Verfolgens ipso facto angemessen, ihm einen Wunsch für dieses Ziel zuzuschreiben. In diesem Sinn ist die Behauptung wahr, daß jeder Handlung ein Wunsch zugrundeliegt: Daß jemand einen bestimmten Wunsch hat, folgt einfach aus der Tatsache, daß bestimmte Überlegungen ihn motivieren. Daraus folgt aber nichts über die Rolle des Wunsches als eine Bedingung, die zu der motivationalen Wirksamkeit dieser Überlegungen beiträgt. Der Wunsch ist eine notwendige Bedingung ihrer Wirksamkeit, aber nur eine logisch notwendige Bedingung. Er ist nicht notwendig als mitwirkender Einfluß oder als kausale Bedingung. (29f.)
Wünsche können von zweierlei Art sein: Unmotivierte Wünsche, wie Hunger und in bestimmten Fällen Emotionen, überkommen uns einfach. Sie sind durch nichts anderes motiviert, können aber dennoch erklärt werden: Hunger wird verursacht durch Nahrungsmangel (ist aber nicht dadurch motiviert). Motivierte Wünsche dagegen sind durch Gründe motiviert und entstehen aufgrund einer Entscheidung und dieser vorausgehendem Nachdenken: Der Wunsch, Einkaufen zu gehen, nachdem man entdeckt hat, daß der Kühlschrank leer ist, ist motiviert durch Hunger sowie die Überlegung, daß man den Hunger durch den Kauf von Nahrungsmittel (und deren anschließendem Verzehr) stillen kann. Eine rationale oder motivationale Erklärung ist für motivierte Wünsche ebenso angebracht wie für die sich daraus ergebenden Handlungen. Es ist jedoch eine offene Frage, ob hinter jedem motivierten Wunsch (z. B. Einkaufen zu gehen) ein unmotivierter Wunsch (z. B. Hunger) stehen muß, oder ob manchmal die Motivation des ursprünglichen (motivierten) Wunsches keinen Bezug auf einen anderen, unmotivierten Wunsch zu nehmen braucht. Die Vertreter der belief-desire Theorie haben diesen Unterschied zwischen motivierten und unmotivierten Wünschen nicht beachtet. Infolgedessen haben sie noch nicht gezeigt, daß jedem motivierten Wunsch ein unmotivierter Wunsch zugrundeliegt. (29f.) Wenn Motivation ohne motivierende Wünsche möglich ist, können Gründe motivieren, ohne daß unter den Bedingungen für ihr Vorliegen weitere Wünsche vorkommen. (32)

3. Es ist nicht notwendig, für jeden Wunsch nach einem bestimmten Zweck auch einen eigenen Wunsch für das Mittel zu diesem Zweck anzunehmen.

Jeder Grund kann als ein Prädikat formuliert werden. Wenn das Prädikat auf eine Handlung, ein Ereignis oder einen Umstand zutrifft, gibt es einen Grund dafür, daß diese Handlung, dieses Ereignis oder dieser Umstand eintritt:

(I) Jeder Grund ist ein Prädikat R, so daß für alle Personen p und Ereignisse A gilt: wenn R auf A zutrifft, dann hat p einen prima facie[4] Grund, das Eintreten von A zu fördern. (47, 90)

Ein solches Prädikat liefert primäre und abgeleitete Gründe: primäre Gründe für Dinge, auf die es unmittelbar zutrifft, abgeleitete Gründe für Dinge, die das Eintreten desjenigen fördern, auf das es unmittelbar zutrifft. (47) Genauer: Wenn eine Person einen primären Grund hat A zu fördern, gibt ihr das einen abgeleiteten Grund B zu tun, falls B in einer der folgenden Beziehungen zu A steht:
1. B ist identisch mit A,
2. B bringt A hervor, erhält A, oder trägt zur Hervorbringung oder Erhaltung von A bei,
3. B ist eine logisch notwendige Bedingung von A,
4. B besteht darin, C nicht zu tun, wobei C in einer der Beziehungen (1) – (3) zu dem Nicht-Eintreten von A steht. (52)
In Bedingung (2) ist B das Mittel zu dem Zweck A. Gründe übertragen somit ihren motivierenden Einfluß durch die Mittel-Zweck Relation von Zwecken auf die dazugehörigen Mittel. (33, 34) Der Wunsch nach dem Mittel ist deshalb kein eigenständiger, die Handlung motivierender Wunsch, sondern ein durch Gründe motivierter Wunsch. (34)

4. Kluges Handeln beruht nicht auf einem gegenwärtigen Wunsch nach Befriedigung von zukünftigen Wünschen.

Um ein Grund zu sein, ist es nicht notwendig, daß das Prädikat zum Zeitpunkt der Handlung auf das Ereignis E zutrifft. Es genügt, daß es tempuslos (tenselessly) wahr ist, daß zur Zeit des Ereignisses das Prädikat auf E zutrifft (48), d. h. Gründe gelten zeitlos (timelessly).
Deshalb gilt (mit der Definition von „Grund“ und „abgeleitetem Grund“):
Wenn es tempuslos wahr ist, daß zur Zeit des Ereignisses E das Prädikat auf E zutrifft, gibt es einen Grund, daß E eintritt (das Eintreten von E zu fördern) und einen abgeleiteten Grund, die Mittel für das Eintreten von E zu ergreifen. (48) Daraus wiederum folgt:
Falls das Ereignis E in der Zukunft liegt, und es tempuslos einen Grund gibt, daß E in der Zukunft eintritt, gibt es jetzt einen abgeleiteten Grund, das Eintreten von E zu fördern. (48)

Der abgeleitete Grund, jetzt das Eintreten eines Ereignisses zu fördern, für das es tempuslos einen Grund gibt, daß es in der Zukunft eintritt, ist ein Klugheitsgrund.

Klugheit besteht in praktischer Voraussicht, in dem Gewicht, das man zukünftigen Konsequenzen beilegt. Man wird als unklug bezeichnet, wenn man zukünftige Konsequenzen nicht beachtet oder sie durch unzureichende gegenwärtige Überlegungen überwiegen läßt. (36)

Aus den bisherigen Definitionen folgt:
Wenn es tempuslos einen Grund gibt, daß in der Zukunft die eigenen Interessen und Wünsche befriedigt werden, gibt es jetzt einen Klugheitsgrund (abgeleiteten Grund) dafür, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, damit in der Zukunft die dann vorliegenden Wünsche und Interessen befriedigt werden können.

Da der motivierende Einfluß von Gründen durch die Mittel-Zweck Beziehung auf abgeleitete Gründe übertragen wird, gilt darüber hinaus:
Wenn der Grund, daß in der Zukunft liegende Interessen und Wünsche befriedigt werden, motivierenden Einfluß hat, so hat auch der abgeleitete Grund, jetzt dafür zu sorgen, daß diese Wünsche in der Zukunft erfüllt werden können, motivierenden Einfluß. Deshalb ist die Annahme, daß es jetzt einen eigenen unmotivierten, motivierenden Wunsch nach Erfüllung zukünftiger Wünsche geben muß, zur Erklärung klugen Handelns nicht notwendig.

5. Die Anerkennung von Klugheitsgründen setzt eine Vorstellung von sich selbst als in der Zeit fortdauerndes Wesen voraus.

Da Klugheitsgründe zeitlos gelten und verlangen, jetzt die Mittel für zukünftige Zwecke zu ergreifen, setzt ihre Anerkennung voraus, daß man sich selbst als ein in der Zeit fortdauerndes Wesen versteht.

Die Vorstellung von sich selbst als ein in der Zeit fortdauerndes Wesen besteht in der Fähigkeit, sich mit vergangenen und zukünftigen Phasen seiner selbst zu identifizieren und sie so zu betrachten, daß sie ein einziges Leben bilden. (58) Diese Identifizierung mit der eigenen Vergangenheit und Zukunft äußert sich darin, daß man die Gegenwart als nur eine Phase im Leben eines fortdauernden Wesens betrachtet, für das auch jene anderen Zeiten (frühere oder spätere) Phasen sind, die ebenso real sind wie die Gegenwart. Die Tatsache, daß eine bestimmte Phase gegenwärtig ist, vermittelt ihr deshalb keinen besonderen Status: Alle Phasen des Lebens haben den gleichen Status. (60)

Um den verschiedenen Zeiten des Lebens den gleichen Status zuschreiben zu können, ist neben der Vorstellung eines Menschen, der einige Jahre lebt und an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten als dieselbe Person wiedererkannt werden kann (60), folgende Überzeugung notwendig: Dasjenige, was sinnvoll von der Gegenwart ausgesagt werden kann, kann auch von anderen Zeiten sinnvoll ausgesagt werden und ist im selben Sinn von jenen Zeiten wahr oder falsch, wie es von der Gegenwart wahr oder falsch ist. (61) Das heißt, was von der Gegenwart ausgesagt werden kann, kann im selben Sinn von der Vergangenheit und Zukunft ausgesagt werden, und was von der Gegenwart im Präsens ausgesagt werden kann, könnte von ihr auch im selben Sinn früher oder später im Präteritum oder Futur ausgesagt werden. (61) Mit anderen Worten: Jeder Umstand, der von einem zeitlichen Standpunkt aus beschreibbar ist, kann auch von anderen zeitlichen Standpunkten aus beschrieben werden. Demgemäß ändert sich der Sinn einer Aussage darüber, was zu einer bestimmten Zeit der Fall ist, nicht mit dem Tempus der Aussage; das Tempus zeigt lediglich die Beziehung an zwischen der Zeit der Äußerung und der Zeit dessen, worüber geredet wird. (61)
Die Bedingungen für die Richtigkeit einer Aussage mit Tempus enthalten folglich zwei Aspekte:
1. eine tempuslose Aussage über die Zeit, die Gegenstand der Aussage ist,
2. eine Beziehung zwischen jener Zeit und der Zeit der Äußerung, wodurch das verwendete Tempus angemessen wird. (61)
Die tempuslose Aussage (tenseless statement) drückt aus, was gemeinsam durch Aussagen im Präsens, Präteritum und Futur über einen Sachverhalt ausgesagt wird. (61)

6. Wenn man sich selbst als ein in der Zeit fortdauerndes Wesen betrachtet, ist die Anerkennung von Klugheitsgründen eine Bedingung der Rationalität von Handlungen.

Um sich selbst als ein in der Zeit fortdauerndes Wesen zu verstehen, muß man die Tatsachen seines vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebens als tempuslos bestimmbare Wahrheiten über verschiedene Zeiten in der Geschichte dieses Wesens betrachten, ohne dabei einer dieser Zeiten einen besonderen Status zuzuweisen. (62) Da Klugheitsgründe solche tempuslos bestimmbaren Wahrheiten sind, verlangt die Vorstellung von sich selbst, als ein in der Zeit fortdauerndes Wesen, die Anerkennung von Klugheitsgründen.

Ein praktisches Urteil im Präsens drückt aus, daß es einen Grund für bestimmte Handlungen gibt. Einen Grund anerkennen dafür, etwas zu tun, bedeutet einen Grund anerkennen, es wirklich zu tun, nicht nur zu glauben, daß man es tun sollte. Ein praktisches Urteil im Präsens hat deshalb motivierenden Gehalt. (64)

Um im Einklang mit der Vorstellung des Urteilenden als eines in der Zeit fortdauernden Wesens zu sein, gelten für praktische Urteile analoge Bedingungen wie für tempuslose Aussagen. Die Anerkennung eines im Präsens formulierten praktischen Urteils verlangt deshalb:
1. die Anerkennung eines tempuslosen Urteils über die in Frage stehende Zeit mit gleichem Inhalt, einschließlich der Anerkennung einer tempuslos spezifizierten Begründung dafür, die Handlung, um die es geht, zu tun (ein Ziel zu fördern),
2. die Überzeugung, daß die Zeit jetzt ist (wodurch die Verwendung des Präsens angemessen wird). (68)

Durch ein früher gefälltes, inhaltsgleiches praktisches Urteil im Futur ist man an das gleiche tempuslose Urteil gebunden. Da der Grund in der tempuslosen Aussage selbst tempuslos spezifiziert ist und mit dem Grund auch der motivierende Gehalt des praktischen Urteils in der tempuslosen Aussage enthalten ist, liefert das praktische Urteil im Futur einen Grund, jetzt zu handeln. (68f.)

7. Da die Menschen sich tatsächlich als in der Zeit fortdauernde Wesen betrachten, hat die Nichtanerkennung von Klugheitsgründen eine Dissoziation von der Vorstellung von sich selbst als in der Zeit fortdauerndes Wesen zur Folge.

Da die Menschen sich tatsächlich als in der Zeit fortdauernde Wesen verstehen, hat die Nichtakzeptanz von zeitlosen Gründen und damit von Klugheitsgründen eine radikale Dissoziation von der eigenen Zukunft, der eigenen Vergangenheit und von sich selbst als ein Ganzes, verstanden als ein zeitlich ausgedehntes Individuum, zur Folge. (58)

8. Die Anerkennung von Klugheitsgründen ist eine Bedingung rationalen Handelns.

Die Dissoziation entsteht, weil die Nichtanerkennung von zeitlosen Gründen der praktische Ausdruck einer Vorstellung von sich selbst ist, die tatsächlich nicht vertreten wird. Es ist ein Erfordernis der Rationalität, diesen Widerspruch zwischen der aus der Nichtanerkennung zeitloser Gründe implizierten Vorstellung von sich selbst und der tatsächlich vorhandenen Vorstellung von sich selbst aufzuheben. Die Anerkennung von Klugheitsgründen ist deshalb eine Bedingung rationalen Handelns.

II. Altruismus

1. Die Anerkennung von objektiven Handlungsgründen setzt die Anerkennung anderer als Personen voraus.

Handlungsgründe sind universell, d. h. in einem gewissen Sinn für alle Personen gleich. (90) Sie sind jedoch entweder subjektiv oder objektiv:

Ein subjektiver Grund enthält in seinem Prädikat R[5] eine freie Agensvariable p. (90) Zum Beispiel:
(p, A) (Wenn A die Interessen von p fördert, hat p einen Grund A zu tun).[6]
Hier kommt p in R frei vor, wobei R lautet: (A fördert die Interessen von p). Das Prinzip[7] besagt: Jeder hat einen Grund, das zu tun, was seine eigenen Interessen fördert. Die eigenen Interessen liefern aber bei diesem Prinzip keinen Grund dafür, daß jemand anders sie fördert. Der Einfluß subjektiver Gründe ist somit immer auf eine Person beschränkt.

Ein objektiver Grund enthält kein freies Vorkommnis von p in R. (90) Zum Beispiel:
(p, A) (Wenn (∃q) (A fördert die Interessen von q), dann hat p einen Grund A zu tun).
D. h.: Jeder hat einen Grund, das zu tun, was die Interessen irgendeiner Person fördert. Hier liefern die Interessen einer Person einen Grund dafür, daß sowohl sie selbst als auch andere Personen diese Interessen fördern. Objektive Gründe übertragen somit ihren Einfluß über Personen hinweg (analog der Übertragung des Einflusses zeitloser Gründe über die Zeit hinweg). (99) Der objektive primäre Grund einer Person, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, liefert einer anderen Person einen abgeleiteten Grund dafür, sie bei der Verfolgung dieses Ziels zu unterstützen.
Da objektive Gründe nicht nur für eine Person gelten, sondern ihren Einfluß auf andere Personen übertragen, setzt die Anerkennung von objektiven Gründen voraus, daß man andere im gleichen Sinn als Personen betrachtet, in dem man sich selbst als Person betrachtet.

2. Die Anerkennung anderer als Personen setzt eine Vorstellung von sich selbst als nur eine Person unter anderen voraus.

Die Anerkennung von anderen als Personen verlangt eine Vorstellung von sich selbst als identisch mit einem bestimmten, unpersönlich spezifizierbaren Bewohner der Welt – ein Bewohner unter anderen mit ähnlichem Wesen. (100)

3. Die Vorstellung von sich selbst als nur eine Person unter anderen setzt einen unpersönlichen Standpunkt voraus.[8]

Das Wesen persönlicher Urteile, Überzeugungen, Einstellungen usw. ist, daß sie die Welt von einem Blickpunkt innerhalb der Welt betrachten, wobei ihr Subjekt der Ort dieses Blickpunktes ist. (100) Im Unterschied zu diesem persönlichen Standpunkt liefert der unpersönliche Standpunkt eine Sicht der Welt, ohne den eigenen Ort in ihr zu bestimmen. (101)
Die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes setzt die Überzeugung voraus, daß es möglich ist, im selben Sinn alles von anderen Personen zu sagen, was man von sich selbst sagen kann. Änderungen der grammatischen Person ändern nicht den Sinn dessen, was über das Subjekt des Urteils ausgesagt wird, sondern nur den Gesichtspunkt, von dem aus die Beobachtung gemacht wird. (101)
Dieses gemeinsame Element von Aussagen, das durch Änderung der grammatischen Person nicht berührt wird, greift der unpersönliche Standpunkt heraus: Er abstrahiert von der Beziehung zwischen dem Sprecher und dem, worüber gesprochen wird und stellt nur fest, was festgestellt werden kann, sofern nur irgendeine solche Beziehung gegeben ist. (101)

Um sich selbst in jeder Hinsicht als nur eine Person unter anderen zu betrachten, muß man dazu fähig sein, sich selbst in jeder Hinsicht unpersönlich zu betrachten. Deshalb ist jeder, der sich selbst als nur eine Person unter anderen betrachtet und ein Urteil über sich oder andere vom persönlichen Standpunkt aus fällt, an zwei weitere Urteile gebunden:
1. ein unpersönliches Urteil gleichen Inhalts über die gleiche Situation und die gleichen Personen,
2. ein persönliches Urteil, das ausdrückt, wer er in der unpersönlich beschriebenen Situation ist. (102)
Das persönliche Urteil, das den eigenen Ort in der unpersönlich beschriebenen Welt bestimmt, ist der einzige persönliche Rest, der nicht in dem System unpersönlicher Überzeugungen, zu dem man durch ein persönliches Urteil verpflichtet ist, enthalten ist. Die Hinzufügung dieses persönlichen Urteils macht zwar einen großen Unterschied, wie die Welt aufgefaßt wird, aber keinen Unterschied, welche Sachverhalte als bestehend aufgefaßt werden. (103)

4. Die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes beim Fällen praktischer Urteile setzt voraus, daß praktische Urteile universell sind.

Um, wie es der unpersönliche Standpunkt verlangt, ein praktisches Urteil im selben Sinn auf andere anwenden zu können, in dem man es auf sich selbst als Handlungsgrund anwendet, muß man zuerst fähig, sein, es auf sich selbst, aufgefaßt als nur eine Person unter anderen, anzuwenden. Nur dadurch ist gewährleistet, daß das, worüber geurteilt wird, nicht nur von einem persönlichen Standpunkt aus, und also nur für einen selbst, zutrifft. (107)
Um ein Prinzip auf sich selbst unpersönlich anzuwenden, muß man fähig sein, es auf die Person, die man ist, anzuwenden, unter Abstraktion der Tatsache, daß man selber diese Person ist. Bei einem nichtuniversellen praktischen Prinzip, d. h. bei einem Prinzip, das nur auf einen selbst zutrifft, ist dies nicht möglich. (108) Deshalb können nichtuniverselle praktische Prinzipien nicht von einem unpersönlichen Standpunkt aus auf den Urteilenden selbst angewendet werden. Die Einnahme eines unpersönlichen Standpunktes beim praktischen Urteilen ist also nur möglich, wenn die eigenen praktischen Prinzipien universell sind. (107)

5. Praktische Urteile im Präsens in der ersten Person sind handlungsmotivierend.

Vgl. oben die Punkte 6 und 1 (im Abschnitt zur Klugheit).

6. Die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes beim Fällen praktischer Urteile setzt voraus, daß der motivierende Gehalt eines praktischen Urteils in dem unpersönlichen Urteil enthalten ist.

Wer das praktische Urteil im Präsens in der ersten Person „Ich habe Grund h zu tun“ fällt, ist an das unpersönliche Urteil „a hat Grund h zu tun“ sowie an das persönliche Urteil „Ich bin a“ gebunden. All jene Bedingungen, die den Handlungsgrund liefern sowie die Bedingungen, die die Wirkungsweise dieser Bedingungen leiten, können unpersönlich spezifiziert werden. Wenn das daraus resultierende unpersönliche Urteil keinen motivierenden Gehalt hat, muß man zusätzlich zu der unpersönlichen Begründung dieses Urteils ein persönliches praktisches Prinzip anwenden, das besagt, daß der Grund nur dann ein Grund zum Handeln ist, falls es der eigene Grund ist. Man braucht also ein Prinzip für den Übergang von einem Grund dafür, daß jemand etwas tun soll, zu einem Grund, es zu tun, falls das persönliche Urteil feststellt, daß man selbst dieser jemand ist. Dies ist unvereinbar mit dem unpersönlichen Standpunkt, da in diesem Fall ein wesentlicher Aspekt des Urteils in der ersten Person, nämlich das Akzeptieren einer Begründung zu handeln, nicht in der unpersönlichen Entsprechung dieses Urteils enthalten ist. (113) Also ist der motivierende Gehalt in dem unpersönlichen Urteil enthalten.

7. Handlungsmotivierende subjektive praktische Urteile sind unvereinbar mit dem unpersönlichen Standpunkt.

Aufgrund seiner freien Agensvariable kann ein subjektives Prinzip nur Wünsche rechtfertigen, die in einer Relation zum Urteilenden selbst stehen: die eigenen Interessen, die Interessen der eigenen Familie usw. Obwohl subjektive Prinzipien jedem diese Rechtfertigung liefern, verlangt die Anerkennung der Rechtfertigung im eigenen Fall, daß der Zweck, für den das Prinzip zutrifft, persönlich bestimmt wird. Dem auf einem subjektiven Prinzip beruhendem unpersönlichen Urteil fehlt also der motivierende Gehalt, der ein wesentliches Element des praktischen Urteils in der ersten Person ausmacht. (116f.) Subjektive praktische Prinzipien erfüllen somit nicht die notwendige Bedingung für die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes, derzufolge der motivierende Gehalt im unpersönlichen Urteil enthalten ist, und sind deshalb mit diesem Standpunkt unvereinbar.

Objektive und subjektive Prinzipien sind beide universell und unpersönlich formuliert. Deshalb erlauben beide, zu sagen, was irgend jemand (einschließlich man selbst) auf der Basis persönlicher oder unpersönlicher Prämissen Grund hat zu tun. Ist diese Konklusion aber von einem objektiven Prinzip abgeleitet, so ist es dasselbe praktische Urteil mit demselben motivierenden Gehalt, egal ob es vom persönlichen oder unpersönlichen Standpunkt herrührt. (119)
Nur objektive Prinzipien rechtfertigen den Wunsch für ein Ziel oder die Bereitschaft, jenes Ziel zu fördern, wenn erkannt wird, daß ein Grund auf das unpersönlich aufgefaßte Ziel zutrifft. Dies gilt, weil objektive Gründe keine freie Agensvariable enthalten und deshalb bei der Entscheidung, ob der Grund zutrifft, nichts über die eigene Beziehung zu diesem Ziel berücksichtigt werden muß. Wenn man das Vorhandensein eines objektiven Grundes für etwas anerkannt hat, hat man einen Grund für jeden anerkannt, sein Eintreten zu wünschen oder zu fördern. Dies deshalb, weil objektive Gründe die Werte für Geschehnisse, Handlungen und Sachverhalte an sich repräsentieren und nicht ihre Werte für irgend jemand. Da sie unpersönlich beschriebenen Umständen oder Ereignissen eine nicht-relative Wünschenswertigkeit zuschreiben, behalten sie ihren motivierenden Gehalt auch, wenn sie unpersönlich angewendet werden. (119f.)

8. Die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes setzt die Anerkennung von objektiven Gründen voraus.

Dieser Punkt folgt unmittelbar aus den beiden vorhergehenden Punkten. Da die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes mit der Anerkennung von subjektiven Gründen unvereinbar ist (und die Disjunktion zwischen subjektiven und objektiven Gründen vollständig ist), setzt die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes die Anerkennung von objektiven Gründen voraus.

9. Wir erkennen andere tatsächlich als Personen im selben Sinn, wie wir es sind, an.

Wer die Realität anderer Personen leugnet, vertritt eine solipsistische Metaphysik. Gegen diese Position gibt es zwar kein zwingendes Argument, aber faktisch sind wir keine Solipsisten, d. h. faktisch erkennen wir an, daß andere Menschen im selben Sinn Personen sind, wie wir es sind. (106)

10. Die ausschließliche Anerkennung von subjektiven praktischen Prinzipien hat eine Dissoziation vom unpersönlichen Standpunkt zur Folge.

Aufgrund der Punkte (2), (3) und (9) sind wir an die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes gebunden. Aus der Tatsache, daß jemand faktisch die Realität anderer Personen anerkennt und deshalb logisch an die Einnahme des unpersönlichen Standpunktes gebunden ist, folgt jedoch nicht, daß sie auch tatsächlich diesen Standpunkt beim Fällen praktischer Urteile einnimmt. Wer also nur die (nach Punkt (7)) mit diesem Standpunkt unvereinbaren subjektiven praktischen Prinzipien anerkennt, nimmt beim praktischen Urteilen den unpersönlichen Standpunkt tatsächlich nicht ein und dissoziiert sich damit von der faktisch vertretenen Vorstellung von sich selbst als nur eine Person unter anderen, ebenso realen Personen.

11. Die Anerkennung von objektiven praktischen Prinzipien ist eine Bedingung rationalen Handelns.

Die Dissoziation entsteht, weil die ausschließliche Anerkennung von subjektiven Handlungsgründen der praktische Ausdruck eines Standpunktes ist, der tatsächlich nicht vertreten wird. Es ist ein Erfordernis der Rationalität, diesen Widerspruch zwischen der faktisch vorhandenen Anerkennung der Realität anderer Personen und der aus der ausschließlichen Anerkennung subjektiver Handlungsgründe implizierten Nichtanerkennung anderer Personen, aufzuheben. Handeln im Einklang mit objektiven Gründen ist deshalb eine Bedingung rationalen Handelns.

12. Wir legen unseren eigenen Wünschen und Interessen einen Wert bei.

Falls eine Person einen Handlungsgrund akzeptiert, legt sie der Handlung oder dem Ziel der Handlung einen (inrinsischen oder extrinsischen) Wert bei. (35) Da die eigenen Interessen uns Handlungsgründe liefern, legen wir ihnen einen Wert bei.

13. Es ist eine Bedingung der Rationalität, daß wir unseren eigenen Wünschen und Interessen einen objektiven Wert beilegen.

Je nachdem, ob ein Handlungsgrund subjektiv oder objektiv ist, ist auch der beigelegte Wert subjektiv oder objektiv. Aus den Punkten (11) und (12) folgt, daß wir nur dann rational sind, wenn wir unseren Interessen einen objektiven Wert beilegen.

14. Es ist eine Bedingung der Rationalität, daß wir auch den Wünschen und Interessen anderer Personen einen objektiven Wert beilegen.

Diese Behauptung folgt unmittelbar aus Punkt (13) und der Definition des objektiven Grundes (in Punkt 1).

15. Es ist eine Bedingung der Rationalität, altruistische Handlungsgründe anzuerkennen.

Altruismus bedeutet nicht, demütige Selbstaufopferung, sondern lediglich die Bereitschaft, beim Handeln die Interessen anderer Personen zu berücksichtigen, ohne dazu durch eigenorientierte Hintergedanken motiviert zu werden. (79) Jede Handlung, die durch die Überzeugung motiviert ist, daß jemand anders davon profitiert oder Schaden vermeidet, ist altruistisch. (16)

Da objektive Gründe ihren Einfluß über Personen hinweg übertragen, liefert der objektive Grund einer bestimmten Person, ein Ziel zu verfolgen, auch anderen Personen einen objektiven Grund, sie bei der Verfolgung ihres Zieles zu unterstützen.[9] Die Nichtanerkennung dieses Grundes verletzt (gemäß Punkt 11) eine Bedingung rationalen Handelns und hat eine Dissoziation vom unpersönlichen Standpunkt zur Folge.

16. Altruistisches Handeln beruht nicht auf einem Wunsch, die Interessen anderer Personen zu befriedigen.

Da altruistisches Handeln durch objektive Gründe motiviert ist, ist der Wunsch, andere Personen bei der Befriedigung ihrer Interessen zu unterstützen, selbst ein durch diese Gründe motivierter Wunsch. Er kann daher altruistischem Handeln nicht als unmotivierter, motivierender Wunsch zugrunde liegen.



[1]      Alle Seitenangaben beziehen sich auf Thomas Nagel, The Possibility of Altruism, Princeton, NJ. 1978. (Erstveröffentlichung: Oxford: Clarenden Press 1970.)

[2]      Ein Beispiel für diese Art der Moralbegründung, die zugleich explizit den Anspruch auf Objektivität (in Nagels Sinn) aufgibt, liefert Harsanyi: “[W]e can say that any moral rule, when stated in full, must have the logical form of a hypothetical imperative such as “If you want to serve the common good, then always do action A under conditions C1, ... Cn”. Once we sate all moral rules in this form, it becomes immediately clear that people who really care for the common good will have excellent reasons for obeying these moral rules. In contrast, anybody who has no interest in the common good – should there be such a person – will have no reason to obey them.” (John C. Harsanyi, Does Reason Tell us What Moral Code to Follow and, Indeed, to Follow Any Moral Code at All?, Ethics 96, 1985, S. 49) “[W]e can show that rationality enjoins moral behavior on people possessing the appropriate public-spirited attributes. But we cannot show that rationality enjoins moral behavior on those people – if there are any such people – who are completely devoid of public-spirited attitudes.” (John C. Harsanyi, Rationality, Reasons, Hypothetical Imperatives, and Morality, in H. Berghel, A. Hübner, E. Köhler (Hrsg.), Wittgenstein, der Wiener Kreis und der kritische Rationalismus. Akten des 3. internationalen Wittgenstein Symposiums, Wien 1979, S. 474)

[3]      Nagels programmatische Bemerkungen in den Kapiteln II–IV können hier unberücksichtigt bleiben, da sie nur die Interpretation (im gewöhnlichen Sinn des Wortes, nicht in Nagels Sinn!) seines Arguments betreffen.

[4]      Zu Nagels Charakterisierung von prima facie Gründen vgl. S. 49–51. Im folgenden wird statt von prima facie Gründen nur noch von Gründen gesprochen.

[5]      Vgl. Definition (I).

[6]      „(p, A)“ steht für: „Für alle p und für alle A gilt“.

[7]      Die Wörter „Grund“ und „Prinzip“ werden im folgenden gleichbedeutend verwendet.

[8]      Aus den Punkten (1) bis (3) folgt, daß die Anerkennung von objektiven Handlungsgründen einen unpersönlichen Standpunkt voraussetzt. Für Nagels Argumentation sind Punkt (1) und der soeben gezogene Schluß allerdings nicht nötig. Nagel muß nur zeigen, daß das Argument in der umgekehrten Richtung gültig ist, so daß gilt: Der unpersönliche Standpunkt setzt die Anerkennung von objektiven Gründen voraus.

[9]      Für sich betrachtet ist diese Konklusion kontraintuitiv und geht weit über Nagels eigentliches Beweisziel hinaus. In Nagels Beispielen ist altruistisches Handeln mit keinen Kosten für den Handelnden verbunden und besteht nur darin, Schaden von jemandem abzuwenden. Im Wesen objektiver Handlungsgründe liegt aber, daß sie (i) dem Ziel der Handlung bzw. der Handlung selbst einen objektiven Wert beilegen, (ii) zu Handlungen motivieren und (iii) ihren motivierenden Einfluß über Personen hinweg übertragen. Daraus folgt, daß, sobald eine Person einen objektiven Grund dafür hat, ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, auch alle anderen Personen (die in einer geeigneten Beziehung zu ihr stehen), einen Grund dazu haben, sie bei der Verfolgung ihres Ziels zu unterstützen. Da objektive Gründe personenunabhängig sind, haben die Ziele anderer Personen das gleiche Gewicht wie die eigenen Ziele. Das heißt, wann immer man ein eigenes Ziel verfolgen will, muß man zuerst abwägen, ob nicht die objektiven Gründe anderer Personen die eigenen Gründe überwiegen und man deshalb, statt das eigene Ziel zu verfolgen, Grund hat, andere bei der Verfolgung ihrer Ziele aktiv zu unterstützen. (Objektive Handlungsgründe sind Gründe für Handlungen und für das Verfolgen von Zielen, nicht nur dafür, andere bei der Verfolgung ihrer Ziele nicht zu behindern!) Diese Position könnte man als „rationalen Moralismus“ bezeichnen. Sie hat die gleichen Konsequenzen wie der ethische Moralismus, nach dem jede Handlung vom unpersönlichen Standpunkt aus betrachtet werden muß und deshalb Handlungen zur Pflicht werden, die nach intuitivem Verständnis nur supererogatorisch sind. Im Unterschied zum ethischen Moralismus, bei dem diese Konsequenz aus einem ethischen Prinzip folgt, werden supererogatorische Handlungen bei Nagel nicht zur Pflicht, sondern zur Bedingung rationalen Handelns. (Aus Nagels Position folgt natürlich nicht, daß man die eigenen Ziele immer zugunsten der Ziele anderer aufgeben soll, sondern nur daß man ein eigenes Ziel rationalerweise erst dann verfolgen darf, wenn kein überwiegender, objektiver Grund einer anderen Person dagegensteht.) In Kapitel XIII macht Nagel zahlreiche Einschränkungen bei der Anerkennung objektiver Handlungsgründe und nimmt damit dem soeben vorgebrachten Einwand einiges an Stärke.