Zu Derek Parfit, Tanner Lectures 2002, Part Two: Universal Laws (S. 26–50)

http://www.law.nyu.edu/clppt/program2002/readings/parfit/Parfitplus.pdf [1]

Die folgende Zusammenfassung geht nur bis S. 40 von Parfits Text

 

Nach Kant sind unsere Handlungen falsch,
(i)    wenn unsere Maximen keine allgemeinen Gesetze sein könnten oder
(ii)    wenn wir nicht vernünftigerweise wollen könnten, daß sie allgemeine Gesetze sind. (26)

Parfit bezeichnet (i) als Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten:[2] (26)
Es ist falsch, nach Maximen zu handeln, die keine allgemeinen Gesetze sein könnten.[3]

Um Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten anwenden zu können, benötigt man ein Kriterium dafür, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein könnte. In Frage hierfür kämen folgende Kriterien:

Eine Maxime könnte kein allgemeines Gesetz sein, außer
(a)   es könnte uns allen erlaubt sein, nach ihr zu handeln.
(b)   wir alle könnten diese Maxime akzeptieren und nach ihr handeln.
(c)   wir alle könnten erfolgreich nach ihr handeln.

In Verbindung mit (i) ergeben sich daraus:

(A)  Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer es könnte uns allen erlaubt sein, nach ihr zu handeln.[4] (26)

(B)  Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer wir alle könnten diese Maxime akzeptieren und nach ihr handeln.[5] (26)

(C)  Es ist falsch, nach einer Maxime zu handeln, außer wir alle könnten erfolgreich nach ihr handeln.[6] (27)

Nach Parfit kann Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten nicht als (A), (B) oder (C) interpretiert werden:

Zu (A): (26)
– Nichts in Kants Schriften unterstützt (A).
– (A) setzt voraus, daß wir auf andere Weise herausfinden können, ob eine bestimmte Handlung erlaubt ist. (A) ist daher als Kriterium für die Falschheit von Handlungen untauglich.

Zu (B): (27)
– Kant beruft sich nur darauf, was passieren würde, wenn jeder diese Maxime akzeptiert. Er behauptet nie, daß, selbst wenn alle die Maxime akzeptieren, wir nicht alle nach ihr handeln können.
– (B) ist ein unplausibles Kriterium. Es würde (fast) keine Maxime ausschließen. Da anders als bei (C) das erfolgreiche Handeln keine Rolle spielt, könnten wir fast jede Maxime akzeptieren und nach ihr handeln (wenn auch nicht immer erfolgreich).

Zu (C): (27f.)
– Viele falsche Handlungen wären zwar auch nach (C) falsch, z. B.: „Andere töten, wenn es zu meinem Vorteil ist.“ (Wir könnten nicht alle erfolgreich nach dieser Maxime handeln. Einige Mordversuche würden fehlschlagen; einige Mörder würden gefaßt und bestraft.) Jedoch wären nach (C) auch viele erlaubte Handlungen falsch, z. B.: „Mehr spenden als die anderen gewöhnlich spenden“, „Arzt werden“, „Kants Philosophie verstehen“. Wir könnten zwar alle versuchen, nach diesen Maximen zu handeln, aber es ist logisch (beim ersten Beispiel) oder praktisch (beim zweiten und dritten Beispiel) unmöglich, daß wir alle Erfolg dabei haben.
– (C) ist unplausibel. Warum sollte, wenn nicht alle erfolgreich nach einer Maxime handeln könnten, niemand nach ihr handeln? Einige harmlose oder wertvolle Ziele können schwer erreichbar sein. Außerdem ist es nicht falsch, Versuche anzustellen, von denen einige sicher fehlschalgen.

Kant selbst beruft sich nicht auf (C). Beim falschen Versprechen behauptet er nicht, daß nicht alle erfolgreich nach der entsprechenden Maxime handeln können, sondern daß, wenn wir alle diese Maxime akzeptieren würden oder uns allen erlaubt wäre, nach ihr zu handeln, niemand erfolgreich nach ihr handeln könnte. Wenn Kant sich auf die Konsequenzen davon bezieht, daß uns allen erlaubt ist, auf eine bestimmte Weise zu handeln, bezieht er sich in Wirklichkeit auf die Konsequenzen davon, daß wir glauben, daß solche Handlungen erlaubt sind. Daher lautet

Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten:[7]
Es ist falsch, nach Maximen zu handeln, die, wenn sie allgemein akzeptiert oder für erlaubt gehalten würden, es unmöglich machen würden, daß irgend jemand erfolgreich nach ihnen handelt.[8] (28)

Wie (A), (B) und (C) ist Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten eine Interpretation von Kants formuliertem Kriterium strenger Pflichten. Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten sagt nur, daß es falsch ist, nach Maximen zu handeln, die keine allgemeinen Gesetze sein könnten, läßt aber offen, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein könnte. Solange man nicht weiß, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein könnte, kann man Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten nicht anwenden. (a), (b) und (c) sind denkbare Kriterien dafür, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein könnte. Setzt man sie in Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten ein, erhält man die Prinzipien (A), (B) und (C). Da Parfit (A), (B) und (C) aber für falsch hält, sucht er nach einem anderen Kriterium dafür, wann eine Maxime kein allgemeines Gesetz sein könnte und glaubt, daß Kant tatsächlich folgendes Kriterium vertritt:

Eine Maxime könnte kein allgemeines Gesetz sein, wenn sie es, wenn sie allgemein akzeptiert oder für erlaubt gehalten würde, unmöglich machen würde, daß irgend jemand erfolgreich nach ihr handelt.

Setzt man dieses Kriterium in Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten ein, so erhält man Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten:

Zwischen den bisher erwähnten Prinzipien besteht also folgender Zusammenhang:

Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten würde die Maxime „Immer lügen“ als falsch verurteilen, da, wenn alle nach dieser Maxime handelten, es für niemanden mehr möglich wäre, erfolgreich zu lügen. Lügner handeln jedoch selten nach dieser Maxime, sondern nach der Maxime „Lügen, wenn es zu meinem Vorteil ist“. Würden aber alle diese Maxime akzeptieren und nach ihr handeln, wäre erfolgreiches Lügen nicht unmöglich und folglich wäre es nach Kants Kriterium erlaubt, nach dieser Maxime zu handeln. Dasselbe gilt für z.  B. für die Maximen:
„Andere töten (verletzen, zwingen) wenn es zu meinem Vorteil ist.“ (28)
„Stehlen, wenn es zu meinem Vorteil ist.“ (29)
„Versprechen brechen, wenn es zu meinem Vorteil ist.“ (30)
Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten erlaubt also viele Handlungen, die wir für falsch halten, z. B. eigeninteressiertes Töten, Verletzen, Zwingen, Lügen, Stehlen und falsches Versprechen. (28f.)

Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten läßt sich in zwei Teile zerlegen. Der erste Teil lautet:

(D)    Es ist falsch, nach Maximen zu handeln, die, wenn sie allgemein für erlaubt gehalten würden, es unmöglich machen würden, daß irgend jemand erfolgreich nach ihnen handelt.[9] (31)

Der zweite Teil lautet:

(E)    Es ist falsch, nach Maximen zu handeln, die, wenn sie allgemein akzeptiert oder nach ihnen gehandelt würde, es unmöglich machen würden, daß irgend jemand erfolgreich nach ihnen handelt.[10] (31)

Zu (D):

(D) verurteilt jene Handlungen, deren Erfolg davon abhängt, daß andere Personen solche Handlungen unterlassen, weil sie sie für falsch halten.

(D) verurteilt viele Handlungen, die wir für erlaubt halten, wie folgende Beispiele zeigen sollen:
1. Angenommen, ein Tyrann führt einen ungerechten Krieg und ich mache mir die folgende Maxime zu eigen: „Diesen Tyrannen töten, um diesen Krieg zu beenden“. Wenn die meisten Untertanen diese Maxime ablehnen und die Bodyguards des Tyrannen dies wissen, werden sie weniger wachsam sein und es mir dadurch ermöglichen, den Tyrannen zu töten. Würden dagegen alle Untertanen meine Maxime für erlaubt halten, würden die Bodyguards sehr wachsam sein und es dadurch unmöglich machen, daß irgend jemand den Tyrannen tötet. Da es unmöglich ist, daß irgend jemand nach der Maxime handelt, wäre sie nach (D) nicht erlaubt.[11] Dieses Ergebnis ist unplausibel, da wir es z.  B. für erlaubt halten, Hitler im zweiten Weltkrieg zu töten. Aber selbst wenn das Töten eines Tyrannen falsch ist, liefert (D) nicht den Grund dafür. Es ist kein Argument gegen das Töten eines Tyrannen, daß, wenn alle das Töten eines Tyrannen für erlaubt hielten, es unmöglich wäre, daß irgend jemand einen Tyrannen töten könnte. (32)
2. Angenommen, während der Zeit des Nationalsozialismus handelt ein Deutscher nach der Maxime „Die Polizei zu belügen, wenn ich dadurch einigen Juden zur Flucht verhelfen kann“. Wenn alle Deutschen solche Lügen für erlaubt gehalten hätten, wäre es unmöglich gewesen, daß irgend jemand Juden auf diese Weise hilft, da die deutschen Polizisten nicht geglaubt hätten, was man ihnen über den Aufenthaltsort von Juden erzählt hätte. (D) würde daher diese lebensrettende Handlung verbieten. (32)

(D) verurteilt die beiden Maximen:
    „Die Polizei zu belügen, wenn ich dadurch einigen Juden zur Flucht verhelfen kann.“
    „Immer meine Versprechen brechen.“
(D) verurteilt die beiden Maximen aus demselben Grund: Wenn alle diese Maximen für erlaubt halten würden, wäre es unmöglich, daß irgend jemand erfolgreich nach ihnen handelt. Dieser Grund läßt aber einen moralisch relevanten Unterschied zwischen den beiden Maximen außer acht, der sich darin äußert, daß wir die erste Maxime für erlaubt, die zweite aber für verboten halten. Daß (D) nicht nur falsche, sondern auch erlaubte Maximen verurteilt, zeigt, daß der Grund, aus dem (D) Maximen verurteilt nicht der richtige sein kann. Selbst wenn (D) also Maximen verurteilt, die wir tatsächlich für falsch halten, verurteilt (D) diese Maximen aus den falschen Gründen, und es ist bloßer Zufall, wenn Maximen, die wir für falsch halten, auch von (D) verurteilt werden. (33)

(D) verurteilt also viele erlaubte Handlungen und diejenigen falschen Handlungen, die es verurteilt, verurteilt es aus den falschen Gründen. (33)

Zu (E):

Es gibt viele Maximen, die, selbst wenn sie allgemein für erlaubt gehalten würden, nicht allgemein akzeptiert würden. Nach solchen Maximen zu handeln wird zwar nicht von (D) verboten, könnte aber von (E) verboten werden. (33)

Es gibt moralisch erlaubte Maximen, die wenn sie allgemein akzeptiert würden, es unmöglich machen würden, daß irgend jemand nach ihnen handelt, z. B.:
„Den Armen spenden.“
„Keine Bestechungsgelder annehmen.“ (34)
Wenn jeder diese Maximen akzeptieren würde, gäbe es keine Armen mehr und niemanden mehr, der Bestechungsgelder anbietet. Folglich könnte niemand mehr nach diesen Maximen handeln. Es wäre jedoch unplausibel, anzunehmen, daß es auf Grund dieser Überlegung falsch wäre, nach diesen Maximen zu handeln. Man könnte daher wie folgt für die Erlaubtheit der Maximen argumentieren: Wenn wir die Maxime „Den Armen spenden“ akzeptieren würden, wäre unser Ziel, die Armut abzuschaffen. Wenn die allgemeine Akzeptanz dieser Maxime es unmöglich machen würde, nach ihr zu handeln, weil die Armut abgeschafft wäre, würde das unser Ziel nicht vereiteln, sondern erfüllen. Das Handeln nach Maximen, deren allgemeine Akzeptanz es unmöglich machen würde, daß irgend jemand nach ihnen handelt, wäre also dann erlaubt, wenn mit der Unmöglichkeit, daß irgend jemand nach ihnen handelt, das Ziel erfüllt ist, das man mit dem Akzeptieren der Maxime erstrebt. (34)
Wenn dagegen die Unmöglichkeit, daß irgend jemand nach einer bestimmten Maxime handelt, mit dem Ziel der Maxime nicht vereinbar ist, ist das Handeln nach der Maxime verboten. Beispielsweise wäre das Handeln nach folgender Maxime verboten:
„Mich duellieren, um meine Ehre zu verteidigen, aber immer daneben schießen.“
Wenn jeder diese Maxime akzeptieren würde, würde die Praxis des Duellierens zu einer Farce verkommen und schließlich verschwinden. Das Verschwinden der Praxis ist nicht mit dem Ziel der Maxime vereinbar, sich zu duellieren um seine Ehre zu retten.[12] Da wir Duellieren für moralisch falsch halten, könnte man denken, daß es richtig ist, daß (E) diese Maxime verurteilt. (34)

(E) verurteilt jedoch auch folgende Maximen, die wir alle für moralisch erlaubt halten:
„Niemals das erste Stück Kuchen nehmen.“
„Nicht sprechen, bevor andere gesprochen haben.“
„Wenn mir ein Auto auf einer engen Straße entgegenkommt, anhalten und das andere Auto vorbei lassen.“
„Keine Kinder bekommen, um mehr Zeit und Energie zu haben, um für die Zukunft der Menschheit zu arbeiten.“

Andererseits verurteilt (E) nicht folgende Maxime, die moralisch noch verwerflicher ist:
„Mich duellieren, um meine Ehre zu verteidigen und immer einen tödlichen Schuß abgeben.“
Wenn jeder diese Maxime akzeptieren würde, würde die Praxis des Duellierens nicht verschwinden und es wäre also nicht unmöglich, daß irgend jemand nach dieser Maxime handelt.
Daß (E) die letzte Maxime nicht verurteilt, die anderen genannten Maximen aber verurteilt, zeigt, daß (E) diese Maximen aus den falschen Gründen verurteilt. (34)

Maxime Bei allgemeiner Akzeptanz könnte Bei allgemeiner Akzeptanz wäre das Ziel der Maxime Nach (E) ist das Handeln nach dieser Maxime Nach (E) zusammen mit der Bedingung der Vereinbarkeit mit dem Ziel der Maxime ist das Handeln nach dieser Maxime Nach unserer moralischen Überzeugung ist das Handeln nach dieser Maxime
Den Armen spenden. niemand danach handeln erfüllt verboten erlaubt erlaubt
Niemals das erste Stück Kuchen nehmen. niemand danach handeln nicht erfüllt verboten verboten erlaubt
Keine Kinder bekommen, um mehr Zeit und Energie zu haben, um für die Zukunft der Menschheit zu arbeiten. niemand danach handeln nicht erfüllt verboten verboten erlaubt
Mich duellieren, um meine Ehre zu verteidigen, aber immer daneben schießen. niemand danach handeln nicht erfüllt verboten verboten verboten (?)
Mich duellieren, um meine Ehre zu verteidigen und immer einen tödlichen Schuß abgeben. ich danach handeln erfüllt erlaubt erlaubt verboten

(E) ist also aus folgenden Gründen kein gutes Kriterium für moralisch richtige Handlungen:
(E) erlaubt Handlungen, die moralisch verboten sind.
(E) verbietet Handlungen, die moralisch erlaubt sind.
(E) verbietet Handlungen, die moralisch verboten sind, aus den falschen Gründen.

Alle wichtigen Maximen, gute oder schlechte, liegen zwischen den beiden Extremen, daß nicht alle nach ihnen handeln können und daß keiner nach ihnen handeln kann. Dies sind Maximen, nach denen

(i)   selbst unter günstigsten Umständen, nicht alle erfolgreich handeln könnten, und
(ii)   selbst unter schlechtesten Umständen, einige erfolgreich nach ihnen handeln könnten.
Kants Kriterium, daß alle erfolgreich nach einer Maxime handeln können müssen, verbietet fast alle wichtigen Maximen. Kants Kriterium, daß einige erfolgreich nach einer Maxime handeln können müssen, verbietet fast keine wichtigen Maximen. Kants Kriterium ist also entweder zu stark oder zu schwach. (35)

Als ein Kriterium strenger Pflichten, das zwischen diesen beiden Extremen liegt, könnte man folgendes Prinzip formulieren:

(F)    Es ist falsch, nach Maximen zu handeln, die, wenn sie allgemein akzeptiert oder nach ihnen gehandelt würde, die Zahl der Menschen reduzieren würden, die erfolgreich nach ihnen handeln könnten.[13] (35)

(F) könnte zwar mehr falsche Handlungen als falsch verurteilen als (D) oder (E). Aber (F) könnte nicht erklären, warum diese Handlungen falsch sind. Außerdem gibt es viele erlaubte Handlungen, die (F) als falsch verurteilt. (35)

Wie schon am Anfang des Textes erwähnt, sind nach Kant unsere Handlungen falsch,
(i)   wenn unsere Maximen keine allgemeinen Gesetze sein könnten oder
(ii)   wenn wir nicht vernünftigerweise wollen könnten, daß sie allgemeine Gesetze sind. (26)
Bisher hat Parfit (i) interpretiert und diskutiert. Nun wendet er sich (ii) zu, das Kants Formel des allgemeinen Gesetzes bzw. der Naturgesetzformel entspricht.

Formel des allgemeinen Gesetzes: (36)
Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen, daß diese Maxime ein allgemeines Gesetz ist.[14]

Kant schreibt oft, daß wir uns bei der Anwendung dieser Formel vorstellen sollen, daß unsere Maxime ein allgemeines Naturgesetz werden würde. Damit ergibt sich die

Naturgesetzformel: (36)
Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen, daß alle diese Maxime akzeptieren und nach ihr handeln.[15]

In anderen Passagen bezieht sich Kant auf die

Erlaubtheitsformel (Permissibility Formula): (36)
Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen, daß es allen moralisch erlaubt ist, auf diese Weise zu handeln.[16]

Kant nimmt an, wenn es erlaubt wäre, gemäß bestimmten Maximen zu handeln, würde es wahrscheinlicher, daß die Menschen danach handelten. Diese Wirkung beruht aber nicht darauf, daß es erlaubt ist, sondern darauf, daß die Menschen glauben, daß es erlaubt ist, so zu handeln. Kant bezieht sich also auf die

Formel der moralischen Überzeugung (Moral Belief Formula): (37)
Es ist falsch, nach einer bestimmten Maxime zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen, daß alle glauben, daß solche Handlungsweisen moralisch erlaubt sind.[17]

Kant versteht unter einer Maxime manchmal den Grundsatz, nach dem jemand handelt, und manchmal den Grundsatz und das zu Grunde liegende Ziel der handelnden Person.
Angenommen zwei Kaufleute handeln nach dem Grundsatz „Niemals meine Kunden betrügen“. Ein Kaufmann handelt so, weil er glaubt, daß das seine Pflicht ist, während der andere Kaufmann so handelt, weil er seinen guten Ruf und seine Gewinne erhalten möchte. Diese Kaufleute haben die gleiche Grundsatzmaxime („Niemals meine Kunden betrügen“) aber unterschiedliche tiefe Maximen. (37)
Kants Formel sollte jedoch auf keine der beiden Maximen angewandt werden, da man sonst unplausible Ergebnisse erhielte:
Angenommen, Egoisten hätten als einzige Maxime: „Tun, was immer für mich am besten ist.“ Egoisten könnten nicht wollen, daß ihre Maxime ein allgemeines Gesetz ist.
Also ist es falsch, nach der egoistischen Maxime zu handeln.
Da die egoistische Maxime „Tun, was immer für mich am besten ist“ die einzige Maxime der Egoisten ist, handeln Egoisten immer nach dieser Maxime – ganz egal, was sie tun.
Da es aber falsch ist, nach dieser Maxime zu handeln, handeln Egoisten immer falsch – ganz egal, was sie tun.
Wenn z. B. ein Egoist, dessen einzige Maxime seine egoistische Maxime ist, ein Kind vor dem Ertrinken rettet (in der Hoffnung auf eine Belohnung), handelt er nicht nach der Maxime „Kinder vor dem Ertrinken retten“, sondern nach seiner egoistischen Maxime „Tun, was immer für mich am besten ist“. Da es falsch ist, nach dieser egoistischen Maxime zu handeln, handelt der Egoist falsch, wenn er ein ertinkendes Kind rettet. Dieses Ergebnis ist unplausibel, da es offensichtlich moralisch richtig ist, daß der Egoist ein ertrinkendes Kind rettet. (37)

Ein anaologes Argument läßt sich für die Maxime „Niemals lügen“ konstruieren:
Man kann nicht wollen, daß die Maxime „Niemals lügen“ ein allgemeines Gesetz ist.
Also ist es falsch, nach dieser Maxime zu handeln.
Also handelt man immer falsch, wenn man nach dieser Maxime handelt.
Also gilt: Immer wenn eine Person die Wahrheit sagt, weil sie nach der Maxime „Niemals lügen“ handelt, handelt sie falsch. Auch dieses Ergebnis ist unplausibel. (37f.)

Um diesen Einwänden gerecht zu werden, muß Kants Formel geändert werden. Die Falschheit einer Handlung hängt nicht vom dem Grundsatz oder dem zu Grunde liegenden Ziel der handelnden Person ab, sondern davon, was diese Person absichtlich tut. Die moralisch relevante Beschreibung einer Handlung muß enthalten, was die Person mit ihrer Handlung zu erreichen beabsichtigt, sowie die anderen vorausgesehenen moralisch relevanten Wirkungen. Es ist jedoch irrelevant, wie die Person in anderen Fällen handeln würde. (38)
Kants Formel müßte daher geändert werden in

RFUL: (38)
(1) Es ist falsch, auf eine bestimmte Weise zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen, daß jede Person das tut, was wir absichtlich tun würden, wenn wir auf diese Weise handelten.
(2) Es ist falsch, auf eine bestimmte Weise zu handeln, außer wir könnten auch vernünftigerweise wollen daß jede Person glaubt, daß es allen erlaubt ist, dasjenige zu tun, was wir absichtlich tun würden, wenn wir auf diese Weise handelten.

(1) ist eine Änderung der Naturgesetzformel, (2) der Formel der moralischen Überzeugung. (38)

Übersicht über die von Parfit diskutieren Prinzipien:

Es ist verboten, nach einer bestimmten Maxime bzw. auf eine bestimmte Weise zu handeln, wenn gilt:  
Die Maxime könnte kein allgemeines Gesetz sein. Kants formuliertes Kriterium strenger Pflichten (26)
– Es könnte nicht allen erlaubt sein, nach der Maxime zu handeln. A (26)
– Es könnten nicht alle die Maxime akzeptieren und nach ihr handeln. B (26)
– Es könnten nicht alle erfolgreich nach ihr handeln. C (27)
– Die Maxime würde, wenn sie allgemein akzeptiert oder für erlaubt gehalten würde, es unmöglich machen, daß irgend jemand erfolgreich nach ihr handelt. Kants tatsächliches Kriterium strenger Pflichten (28)
–– Die Maxime würde, wenn sie allgemein für erlaubt gehalten würde, es unmöglich machen, daß irgend jemand erfolgreich nach ihr handelt. D (31)
–– Die Maxime würde, wenn sie allgemein akzeptiert oder nach ihr gehandelt würde, es unmöglich machen, daß irgend jemand erfolgreich nach ihr handelt. E (31)
––– Die Maxime würde, wenn sie allgemein akzeptiert oder nach ihr gehandelt würde, die Zahl der Menschen reduzieren, die erfolgreich nach ihr handeln könnten. F (35)
Wir können nicht wollen, daß die Maxime ein allgemeines Gesetz ist. Formel des allgmeinen Gesetzes (36)
– Wir können nicht wollen, daß alle die Maxime akzeptieren und nach ihr handeln. Naturgesetzformel (36)
–– Wir können nicht wollen, daß alle dasjenige tun, was wir absichtlich tun würden, wenn wir auf diese Weise handelten. RFUL 1 (38)
– Wir können nicht wollen, daß es allen erlaubt ist, nach der Maxime zu handeln. Erlaubtheitsformel (36)
– Wir können nicht wollen, daß alle glauben, daß es allen erlaubt ist, nach der Maxime zu handeln. Formel der moralischen Überzeugung (37)
––– Wir können nicht wollen, daß alle glauben, daß es allen erlaubt ist, dasjenige zu tun, was wir absichtlich tun würden, wenn wir auf diese Weise handelten. RFUL 2 (38)

Um Kants Formel anwenden zu können, muß man einige Annahmen darüber machen, was wir vernünftigerweise wollen können. Man könnte folgende drei Ansichten dazu unterscheiden:
1. Es ist immer unvernünftig/irrational, falsch zu handeln. Diese Ansicht ist hier irrelevant, da Kants Formel ein Kriterium für die Falschheit von Handlungen liefern soll, das nicht selbst voraussetzt, daß diese Handlungen falsch sind: Es wäre witzlos, die beiden folgenden Sätze zu behaupten:
 Satz 1: Unsere Handlung ist falsch, außer wir können vernünftigerweise wollen, daß alle auf diese Weise handeln.
 Satz 2: Wir können nicht vernünftigerweise wollen, daß alle auf diese Weise handeln, weil solche Handlungen falsch sind. (39)
Der zweite Satz mag zwar wahr sein, aber wenn er wahr ist, dann ist unser Wissen davon, daß solche Handlungen falsch sind unabhängig davon, daß wir nicht vernünftigerweise wollen können, daß alle auf diese Weise handeln: Wir wissen schon, daß solche Handlungen falsch sind, und deshalb können wir nicht vernünftigerweise wollen, daß alle auf diese Weise handeln. Nach dem ersten Satz dagegen können wir erst wissen, ob es falsch ist, auf eine bestimmte Weise zu handeln, wenn wir wissen, ob wir wollen können, daß alle auf diese Weise handeln. Beim ersten Satz ist also unser Wissen davon, daß solche Handlungen falsch sind nicht unabhängig davon, daß wir nicht vernünftigerweise wollen können, daß alle auf diese Weise handeln.
Mit diesen beiden Sätzen allein dreht sich die Argumentation im Kreis und wir können niemals wissen, ob eine bestimmte Handlungsweise falsch ist:
Wenn wir nicht vernünftigerweise wollen können, daß alle auf diese Weise handeln,
dann sind solche Handlungen falsch (1).
Wenn solche Handlungen falsch sind,
dann können wir nicht vernünftigerweise wollen, daß alle auf diese Weise handeln (2).

2.  Es ist immer vernünftig, daß wir dem Wohlergehen anderer Personen ein signifikantes Gewicht geben. Es ist unvernünftig, falsch zu handeln, wenn unsere Handlungen, obwohl sie zu unserem Vorteil sind, anderen Personen schwere Lasten auferlegen. Selbst wenn diese Ansicht wahr wäre, wäre sie hier irrelevant. In Kants Formel wird nicht angenommen, daß solche Handlungen irrational sind. Die Idee hinter Kants Formel ist: Obwohl es für uns rational sein kann, auf Weisen zu handeln, die falsch sind, können wir nicht vernünftigerweise wollen, daß alle auf diese Weisen handeln oder daß alle solche Handlungsweisen für erlaubt halten. Daher können wir, wenn wir Kants Formel anwenden, uns weder auf die Irrationalität des Falschhandelns beziehen noch darauf, daß es unvernünftig wäre, dem Wohlergehen anderer Personen ein geringes Gewicht zu geben. Wir müssen uns vielmehr auf nicht-moralische Rationalität/Vernünftigkeit beziehen.[18] (39)

3.  Wir können nicht vernünftigerweise wollen, daß alle auf eine bestimmte Weise handeln, wenn eine solche Welt schlecht für uns wäre. Dies ist nicht Kants Ansicht, da für Kant das Prinzip der Klugheit bzw. „Selbstliebe“ ein hypothetischer Imperativ ist, der für uns nur einschlägig ist, wenn uns an unserem zukünftigen Wohlergehen gelegen ist. Aber wenn uns, wie Kant annimmt, an unserem zukünftigen Wohlergehen gelegen ist, dann wäre es instrumentell irrational für uns, zu wollen, daß andere Menschen auf eine Weise handeln, die schlecht für uns wäre. (39f.)

Kants Formel funktioniert am besten, wenn sie auf Maximen oder Handlungen angewandt wird, von denen folgende drei Behauptungen wahr sind: (40)

1.  Es wäre für viele Menschen möglich, nach dieser Maxime oder auf diese Weise zu handeln.

2.  Unabhängig davon, wie viele Menschen auf diese Weise handeln, wären die Wirkungen jeder einzelnen Handlung die gleichen.

3.  Diese Wirkungen wären zufällig oder in etwa gleichmäßig zwischen den Personen verteilt.

Diese Behauptungen treffen auf viele Handlungen zu, die klarerweise falsch sind, z.  B. aus Eigeninteresse eine Person verletzen, zwingen oder betrügen: Viele Menschen könnten häufig so handeln (1). Unabhängig davon, wie viele Menschen auf diese Weise handeln, wären die Wirkungen jeder einzelnen Handlung ungefähr gleich, insofern sie zum Vorteil der handelnden Personen und zum Nachteil der betroffenen Personen wären (2). In vielen Fällen wären diese Nachteile wahrscheinlich zufällig oder in etwa gleichmäßig verteilt (3). In solchen Fällen wäre es schlechter für fast alle von uns, wenn alle so handeln würden, als wenn niemand so handeln würde. Selbst wenn jeder von uns Vorteile von solchen Handlungen hätte, wären die Nachteile durch die gleichen Handlungen anderer Personen wahrscheinlich größer. Kants Formel verbietet solche Handlungen, da wir nicht vernünftigerweise wollen können, daß alle so handeln. (40)

In manchen Fällen trifft zusätzlich zu (1)–(3) noch folgendes zu:

4. Da die schlechten Wirkungen auf viele Menschen verteilt würden, wären die Wirkungen jeder Handlung auf jede einzelne Person trivial oder nicht wahrnehmbar. (40)


[1]      Alle Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Manuskript.

[2]      “Kant’s stated criterion of strict duties” (26).

[3]      “It is wrong to act on maxims that could not be universal laws.” (26)

[4]      “(A) It is wrong to act on some maxim unless we could alle be permitted to act upon it.” (26)

[5]      “(B) It is wrong to act on some maxim unless we could all accept this maxim, and act upon it.” (26)

[6]      “(C) It is wrong to act on some maxim unless we could all successfully act upon it.” (27)

[7]      “Kant’s actual criterion of strict duties.” (28)

[8]      “It is wrong to act on maxims whose being universally accepted, or believed to be permissible, would make it impossible for anyone successfully to act upon them.” (28)

[9]      “(D) It is wrong to act on maxims whose being universally believed to be permissible would make it impossible for anyone successfully to act upon them.” (31)

[10]    “(E) It is wrong to act on maxims whose being universally accepted, or acted upon, would make it impossible for anyone successfully to act upon them.” (31)

[11]    In diesem Beispiel ist es eine empirische Frage, ob es irgend jemand schafft, den Tyrannen zu töten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dies doch jemandem gelingt. Daraus ergibt sich eine seltsame Konsequenz: Wenn es jemandem gelingt, den Tyrannen zu töten, ist die Handlung nach (D) erlaubt, wenn es niemandem gelingt, den Tyrannen zu töten, ist die Handlung verboten. Ob es also erlaubt oder verboten ist, den Tyrannen zu töten, hängt vom tatsächlichen Erfolg des Tötungsversuchs ab. Solange man nicht prinzipiell ausschließen kann, daß es möglich ist, den Tyrannen zu töten, ist es nicht verboten, ihn zu töten.

[12]    Die Maxime wäre verboten, weil das Ziel der Maxime ist, seine Ehre durch Duellieren zu retten und dieses Ziel vereitelt würde, wenn alle nach dieser Maxime handeln würden. Folgende Maxime wäre dagegen nicht verboten: „Mich duellieren und immer daneben schießen, um die Praxis des Duellierens zu beenden.“

[13]    “(F) It is wrong to act on maxims whose being universally accepted, or acted upon, would greatly reduce the number of people who could successfully act upon them.” (35)

[14]    Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Grundlegung, AA 421)

[15]    Kant: „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.“ (Grundlegung, AA 421)

[16]    “It is wrong to act on some maxim unless we could also rationally will it to be true that everyone is morally permitted to act in this way.” (36)

[17]    “It is wrong to act on some maxim unless we could also rationally will it to be true that everyone believes such acts to be permissible.” (37)

[18]    In Parfits Text stehen in diesem Absatz stets die Wörter „rationality“, „rational“ und „irrational“.