John Rawls’ Gerechtigkeitsprinzipien

Erster Grundsatz

Jedermann hat gleiches Recht auf das umfangreichste Gesamtsystem gleicher Grundfreiheiten, das für alle möglich ist.

Zweiter Grundsatz

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten müssen folgendermaßen beschaffen sein:
(a) sie müssen unter der Einschränkung des gerechten Spargrundsatzes den am wenigsten Begünstigten den größtmöglichen Vorteil bringen, und
(b) sie müssen mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen.

Erste Vorrangregel (Vorrang der Freiheit)

Die Gerechtigkeitsgrundsätze stehen in lexikalischer Ordnung; demgemäß können die Grundfreiheiten nur um der Freiheit willen eingeschränkt werden, und zwar in folgenden Fällen: (a) eine weniger umfangreiche Freiheit muß das Gesamtsystem der Freiheiten für alle stärken;
(b) eine geringere als gleiche Freiheit muß für die davon Betroffenen annehmbar sein.

Zweite Vorrangregel (Vorrang der Gerechtigkeit vor Leistungsfähigkeit und Lebensstandard)

Der zweite Gerechtigkeitsgrundsatz ist dem Grundsatz der Leistungsfähigkeit und Nutzenmaximierung lexikalisch vorgeordnet; die faire Chancengleichheit ist dem Unterschiedsprinzip vorgeordnet, und zwar in folgenden Fällen:
(a) eine Chancen-Ungleichheit muß die Chancen der Benachteiligten verbessern;
(b) eine besonders hohe Sparrate muß insgesamt die Last der von ihr Betroffenen mildern.“

John Rawls (1971), Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt am Main 1975, S. 336f. (§ 46)

 

“FIRST PRINCIPLE

Each person is to have an equal right to the most extensive total system of equal basic liberties compatible with a similar system of liberty for all.

SECOND PRINCIPLE

Social and economic inequalities are to be arranged so that they are both:
(a) to the greatest benefit of the least advantaged, consistent with the just savings principle, and
(b) attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality of opportunity.

FIRST PRIORITY RULE (THE PRIORITY OF LIBERTY)

The prinicples of justice are to be ranked in lexical order and therefore the basic liberties can be restricted only for the sake of liberty. There are two cases:
(a) a less extensive liberty must strengthen the total system of liberties shared by all;
(b) a less than equal liberty must be acceptable to those with the lesser liberty.

SECOND PRIORITY RULE (THE PRIORITY OF JUSTICE OVER EFFICIENCY AND WELFARE)

The second principle of justice is lexically prior to the principle of efficiency and to that of maximizing the sum of advantages; and fair opportunity is prior to the difference principle. There are two cases:
(a) an inequality of opportunity must enhance the opportunities of those with the lesser opportunity;
(b) an excessive rate of saving must on balance mitigate the burden of those bearing this hardship.”

John Rawls (1971): A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge Mass. 1999, S. 266f. (§ 46)

 

Als Reaktion auf eine Kritik von H. L. A. Hart hat Rawls in seinen Tanner Lectures (1981, veröffentlicht 1983) die Formulierung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes geändert. Harts Kritik erschien in “Rawls on Liberty and Its Priority”, University of Chicago Law Review 40 (1973), S. 534–55, wiederabgedruckt in Reading Rawls, hrsg. von Norman Daniels, Oxford 1975, S. 230–52, – „Freiheit und ihre Priorität bei Rawls“, in Über John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit, hrsg. von Otfried Höffe, Frankfurt a. M. 1977, S. 131–61.

 

Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze lauten wie folgt:
1. Jede Person hat das gleiche Recht auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit einem ähnlichen System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
2. Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen genügen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die allen unter Bedingungen fairer Chancengleichheit offenstehen, und zweitens müssen sie den größten Vorteil für die am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft bringen.
Die […] Änderung im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz besteht darin, daß die Wendung „ein völlig adäquates System“ die in A Theory of Justice benutzte Wendung „das umfangreichste Gesamtsystem ersetzt.

John Rawls (1993), Politischer Liberalismus, Frankfurt a. M. 1998, S. 404–98 (S. 406).
Zuerst übersetzt in „Der Vorrang der Grundfreiheiten“, in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 159–254 (S. 160f.).

 

[...] the two principles of justice read as follows:

a. Each person has an equal right to a fully adequate scheme of equal basic liberties which is compatible with a similar scheme of liberties for all.
b. Social and economic inequalities are to satisfy two conditions. First, they must be attached to offices and positions open to all under conditions of fair equality of opportunity; and second, they must be to the greatest benefit of the least advantaged members of society.

The change in the first principle of justice [...] is that the words “a fully adequate scheme” replace the words “the most extensive total system” which were used in Theory. This change leads to the insertion of the words “which is” before “compatible”.

John Rawls, Political Liberalism, New York 1993, S. 289–371: S. 291.
Zuerst veröffentlicht in “The Basic Liberties and Their Priority”, in The Tanner Lectures on Human Values, hrsg. von S. McMurrin, Salt Lake City 1983, S. 3–87. Wiederabgedruckt in Liberty, Equality, and Law. Selected Tanner Lectures on Moral Philosophy, hrsg. von Sterling M. McMurrin, Salt Lake City 1987, S. 1–87 (S. 5.).

 

Schriften von John Rawls (PDF)