W. D. Ross’ Katalog von prima facie Pflichten

„Ich möchte vorschlagen, Prima-facie-Pflichten – ohne Vollständigkeit oder Endgültigkeit zu beanspruchen – in der folgenden Weise einzuteilen.
(1) Einige Pflichten beruhen auf vorgängig von mir ausgeführten Handlungen. Wie es scheint, gliedern sich diese Pflichten wiederum in zwei Gruppen, (a) Pflichten, die auf einem Versprechen beruhen, beziehungsweise darauf, was man implizites Versprechen nennen könnte, dem impliziten Versprechen etwa, nicht die Unwahrheit zu sagen, das darin enthalten scheint, daß man sich mit anderen unterhält (was zumindest für zivilisierte Menschen gelten sollte), oder daß man Bücher schreibt, die Tatsachendarstellung und nicht Dichtung sein wollen. Diese Pflichten könnte man Wahrhaftigkeitspflichten nennen, (b) Pflichten, die auf einem vorgängigen Unrecht beruhen. Diese Pflichten ließen sich als Wiedergutmachungspflichten bezeichnen.
(2) Einige Pflichten beruhen auf vorgängigen Handlungen anderer beziehungsweise darauf, daß sie mir irgendwelche guten Dienste erwiesen haben. Diese Pflichten lassen sich in etwa als Dankbarkeitspflichten beschreiben.
(3) Einige beruhen auf der tatsächlichen oder möglichen Existenz einer Verteilung von Lust oder Glück (oder der Mittel dazu), die nicht mit dem jeweiligen Verdienst übereinstimmt; in solchen Fällen ergibt sich die Pflicht, eine derartige Verteilung zu beseitigen oder zu verhindern. Dieses sind Gerechtigkeitspflichten.
(4) Einige beruhen auf der bloßen Tatsache, daß außer uns andere Wesen auf der Welt sind, deren Lage wir in Hinsicht auf Tugend, Einsicht oder Lust verbessern können. Dieses sind Wohltätigkeitspflichten.
(5) Einige beruhen darauf, daß wir unsere eigene Lage in Hinsicht auf Tugend oder Einsicht verbessern können. Dieses sind Pflichten der Selbstvervollkommnung.
(6) Wir sollten meines Erachtens diejenigen Pflichten, die sich unter dem Titel »Anderen keinen Schaden zufügen« zusammenfassen lassen, von den Pflichten unter (4) unterscheiden. Zwar stellt jede Schädigung eines anderen unter anderem auch einen Mangel an Wohltätigkeit dar; aber es dürfte unzweifelhaft sein, daß die Pflicht, anderen keinen Schaden zuzufügen, als eine Pflicht für sich, unabhängig von der Pflicht zur Wohltätigkeit, und zudem als eine Pflicht höherer Dringlichkeit verstanden wird. Es fällt auf, daß nur dieser Typ von Pflichten eine negative Formulierung erhalten hat. Natürlich könnte man versuchen, auch diese Pflicht positiv zu fassen. Man könnte etwa sagen, daß es sich hierbei in Wirklichkeit um die Pflicht handelt, uns aller Handlungen zu enthalten, die der Neigung entspringen, anderen Schaden zuzufügen, beziehungsweise der Neigung entspringen, das zu suchen, was für uns selbst lustvoll ist, insofern dies anderen leicht zum Schaden gereichen kann. Aber bei genauerem Nachdenken wird klar, daß die primäre Pflicht in diesem Falle die ist, anderen keinen Schaden zuzufügen, wobei diese Pflicht ganz unabhängig davon besteht, ob wir Neigungen verspüren, deren Befolgung zu einer Schädigung der anderen führen würde, und daß in dem Falle, in dem wir eine solche Neigung verspüren, sich aus der primären Pflicht, anderen keinen Schaden zuzufügen, die sekundäre Pflicht herleitet, der Neigung zu widerstehen. Die Anerkennung dieser Pflicht, sich jeder Schädigung anderer zu enthalten, ist der erste Schritt zur Anerkennung der Pflicht zur Wohltätigkeit; und das erklärt die Vorrangstellung der Gebote »Du sollst nicht töten«, »Du sollst nicht ehebrechen«, »Du sollst nicht stehlen«, »Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen« in einem so frühen Moralkodex wie dem Dekalog. Aber selbst dann, wenn wir die Pflicht zur Wohltätigkeit anerkannt haben, scheint es, daß wir die Pflicht, anderen keinen Schaden zuzufügen, als eine Pflicht für sich betrachten und als eine Pflicht, die prima facie verbindlicher ist. Wir halten uns im allgemeinen nicht für berechtigt, einen Menschen zu töten, um das Leben eines anderen zu erhalten, oder den einen zu bestehlen, um dem anderen ein Almosen zu geben.“

W. D. Ross, The Right and the Good, Oxford 1930, S. 20–22. Deutsche Übersetzung aus: David Ross: Ein Katalog von Prima-facie-Pflichten, in Texte zur Ethik, hrsg. von Dieter Birnbacher und Norbert Hoerster, München 1976, S. 253–68: S. 256–58

 

“Of prima facie duties I suggest, without claiming completeness or finality for it, the following division.
(1) Some duties rest on previous acts of my own. These duties seem to include two kinds, (a) those resting on a promise or what may fairly be called an implicit promise, such as the implicit undertaking not to tell lies which seems to be implied in the act of entering into conversation (at any rate by civilized men), or of writing books that purport to be history and not fiction. These may be called the duties of fidelity. (b) Those resting on a previous wrongful act. These may be called the duties of reparation. (2) Some rest on previous acts of other men, i.  e. services done by them to me. These may be loosely described as the duties of gratitude. (3) Some rest on the fact or possibility of a distribution of pleasure or happiness (or of the means thereto) which is not in accordance with the merit of the persons concerned; in such cases there arises a duty to upset or prevent such a distribution. These are the duties of justice. (4) Some rest on the mere fact that there are other beings in the world whose condition we can make better in respect of virtue, or of intelligence, or of pleasure. These are the duties of beneficence. (5) Some rest on the fact that we can improve our own condition in respect of virtue or of intelligence. These are the duties of self-improvement. (6) I think that we should distinguish from (4) the duties that may be summed up under the title of ‘not injuring others’. No doubt to injure others is incidentally to fail to do them good; but it seems to me clear that non-maleficence is apprehended as a duty distinct from that of beneficence, and as a duty of a more stringent character. It will be noticed that this alone among the types of duty has been stated in a negative way. An attempt might no doubt be made to state this duty, like the others, in a positive way. It might be said that it is really the duty to prevent ourselves from acting either from an inclination to harm others or from an inclination to seek our own pleasure, in doing which we should incidentally harm them. But on reflection it seems clear that the primary duty here is the duty not to harm others, this being a duty whether or not we have an inclination that if followed would lead to our harming them; and that when we have such an inclination the primary duty not to harm others gives rise to a consequential duty to resist the inclination. The recognition of this duty of non-maleficence is the first step on the way to the recognition of the duty of beneficence; and that accounts for the prominence of the com­mands ‘thou shalt not kill’, ‘thou shalt not commit adultery’, ‘thou shalt not steal’, ‘thou shalt not bear false witness’, in so early a code as the Decalogue. But even when we have come to recognize the duty of beneficence, it appears to me that the duty of non-maleficence is recognized as a distinct one, and as prima facie more binding. We should not in general consider it justifiable to kill one person in order to keep another alive, or to steal from one in order to give alms to another.”

W. D. Ross, The Right and the Good, Oxford 1930, Reprint: Indianapolis 1988, S. 20–22