Argumentation für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze

Kontraktualistischer Ansatz:

Wir gehen aus von der Idee der Gesellschaft als ein faires System der Kooperation zwischen freien und gleichen Personen. Was faire Bedingungen der Kooperation sind, wird nicht bestimmt durch Berufung auf göttliche Gesetze, Naturrecht oder moralische Intuitionen, sondern durch eine Vereinbarung, auf die sich freie und gleiche Personen einigen.

Faire Bedingungen der Kooperation (Gerechtigkeitsgrundsätze) erhält man nur, wenn die Vereinbarung selbst fair ist und unter fairen Bedingungen zustande gekommen ist.

Daher muß man einen fairen Ausgangszustand für die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen definieren. Dieser faire Ausgangszustand ist der Urzustand. Er ist eine bestimmte Interpretation des in jeder kontraktualistischen Theorie vorkommenden Ausgangszustands. „Der Begriff des Urzustands [...] ist die philosophisch bevorzugte Auffassung dieser anfänglichen Entscheidungssituation für die Zwecke einer Theorie der Gerechtigkeit.“ (TG 35)

Bestimmung der philosophisch bevorzugten Auffassung des Ausgangszustands:

1. Der Urzustand soll durch „weithin anerkannte, aber schwache Bedingungen gekennzeichnet sein,“ die jedoch stark genug sein müssen, um aus ihnen bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze ableiten zu können. (TG 37f., 152)

2. Zur Bestimmung der philosophisch bevorzugten Auffassung des Ausgangszutands geht man „davon aus, daß weithin Übereinstimmung darüber herrscht, daß Gerechtigkeitsgrundsätze unter bestimmten Bedingungen festgelegt werden sollten.“ (TG 35) Der Urzustand muß also so definiert werden, daß er diese Bedingungen erfüllt. Hierbei muß man Annahmen folgender Art machen:
– Annahmen über die formalen Eigenschaften, die Grundsätze haben müssen, um als Gerechtigkeitsgrundsätze in Frage zu kommen.
– Annahmen über die Vernünftigkeit und Motivation der Menschen im Urzustand.
– Annahmen darüber, unter welchen Bedingungen die Situation im Urzustand fair ist.

3. Der Urzustand muß so definiert werden, „daß die Grundsätze, die in ihm gewählt würden, welcher Art sie auch seien, moralisch richtig sind“ und somit eine reine Verfahrensgerechtigkeit vorliegt. (TG 142)

4. Er muß so definiert werden, daß er „zu einer Vorstellung führt, die unseren wohlerwogenen [Gerechtigkeits-]Urteilen im Überlegungsgleichgewicht entspricht.“ (TG 143) „Wir möchten den Urzustand so bestimmen, daß die gewünschte Lösung herauskommt.“ (TG 165) „Man muß prüfen, ob die Grundsätze, die gewählt würden, unseren wohlüberlegten Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen oder sie auf annehmbare Weise erweitern. [...] Wir können also eine Konkretisierung des Urzustands daran prüfen, wie weit sich ihre Grundsätze mit unseren festesten Überzeugungen vertragen und wie weit sie uns da, wo es nötig ist Anleitung geben.“ (TG 37)

Herleitung der beiden Gerechtigkeitsgrundsätze im Urzustand:

„Die Argumentation [im Urzustand] soll letzten Endes streng deduktiv sein.“ (TG 143) D. h., mit den im Urzustand gegebenen Bedingungen gibt es zwingende (von der Intuition und der Methode des Überlegungsgleichgewichts unabhängige) Gründe für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze.

„Wir wollen sagen, bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze seien gerechtfertigt, weil man sich in einem anfänglichen Zustand der Gleichheit auf sie einigen würde.“ (TG 39)

Überlegungsgleichgewicht:

Zur Rechtfertigung der Gerechtigkeitsgrundsätze müssen folgende Arten von wohlüberlegten Urteilen in ein Überlegungsgleichgewicht gebracht werden:
– Wohlüberlegte Urteile über die fairen Bedingungen, in denen die Gerechtigkeitsgrundsätze gewählt werden sollen.
– Wohlüberlegte Urteile über Gerechtigkeitsgrundsätze.
– Wohlüberlegte Urteile über die Gerechtigkeit einzelner Fälle.

Argumentation für die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze:

Kontraktualistischer Ansatz: Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze würden unter Bedingungen gewählt, die wir als angemessen für die Wahl solcher Grundsätze betrachten.

Überlegungsgleichgewicht: Die Definition dieser Bedingungen muß unseren wohlüberlegten Urteilen über ihre Angemessenheit entsprechen.

Kontraktualistische Herleitung: Die Gerechtigkeitsgrundsätze müssen unter diesen Bedingungen herleitbar sein.

Überlegungsgleichgewicht: Die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze systematisieren am besten unsere wohlüberlegten Gerechtigkeitsurteile.

Funktion und Bedeutung des Urzustands:

1. Der Urzustand ist ein Gedankenexperiment zur Begründung von Gerechtigkeitsgrundsätzen für die Grundstruktur der Gesellschaft. Er ist daher nur ein hypothetischer Zustand. (TG 28f., 35, 39, 142)
Welche Rolle spielt der Urzustand, wenn die in ihm getroffene Vereinbarung nur hypothetisch ist und hypothetische Vereinbarungen nicht bindend sind? Die Bedeutung des Urzustands liegt darin, daß er ein Darstellungsmittel (TG 39) bzw. ein Gedankenexperiment zur Klärung der öffentlichen und eigenen Position ist, der folgende Dinge nachbildet:
(a) Er modelliert, was wir – hier und jetzt – als faire „Bedingungen [betrachten], unter denen die Vertreter freier und gleicher Personen die Bedingungen sozialer Kooperation für die Grundstruktur der Gesellschaft festlegen sollen“. (JF 274; JAFAR 17)
(b) Er modelliert, was wir – hier und jetzt – als annehmbare Beschränkungen der Gründe ansehen, aus denen die Menschen im Urzustand bestimmte Gerechtigkeitsprinzipien vorschlagen oder ablehnen können. (JAFAR 17; JF 274)
Wenn der Urzustand diese Dinge angemessen nachbildet, können wir annehmen, daß die Gerechtigkeitsprinzipien, auf die sich die Menschen im Urzustand einigen würden, diejenigen Bedingungen der Kooperation festlegen würden, die wir – hier und jetzt – als fair und als durch die besten Gründe gestützt ansehen. (JAFAR 17)

2. Der Urzustand dient dazu, den Überblick über alle unsere Annahmen zu bewahren. Wir können sehen, was wir angenommen haben, indem wir uns ansehen, wie die Menschen im Urzustand und ihre Situation beschrieben worden sind. Der Urzustand bringt die gemeinsame Kraft unserer Annahmen zum Vorschein, indem er sie in einer überschaubaren Idee vereinigt, die uns die Implikationen unserer Annahmen leichter sehen läßt. (JAFAR, 81)

Besonderer Charakter des Rawls’schen Kontraktualismus:

Die Einigung auf bestimmte Gerechtigkeitsgrundsätze ist nicht das Ergebnis eines Verhandlungsprozesses verschiedener Personen, die jeweils ihre Interessen durchzusetzen versuchen, sondern:

– Die Einigung ist das Ergebnis einer vernünftigen Überlegung:

„Daß eine bestimmte Gerechtigkeitsvorstellung im Urzustand gewählt würde, ist gleichbedeutend damit, daß vernünftige Überlegungen, die bestimmten Bedingungen und Einschränkungen genügen, zu diesem Ergebnis kämen.“ (TG 161f.)

– Diese Überlegung kann jede Person zu jeder Zeit für sich alleine durchführen:

„Auf jeden Fall muß man den Urzustand so auffassen, daß man sich jederzeit seinen Blickwinkel zu eigen machen kann. Es darf keinen Unterschied machen, wann und durch wen das geschieht: Die Einschränkungen müssen so beschaffen sein, daß stets dieselben Grundsätze gewählt werden.“ (TG 162)
„[E]in oderer mehrere Menschen [können] jederzeit in diesen Zustand eintreten [...] oder, besser, die in ihm stattfindenden Überlegungen nachvollziehen [...], indem sie einfach gemäß den entsprechenden Einschränkungen denken.“ (TG 161)
„Zunächst liegt auf der Hand, daß alle Beteiligten von den gleichen Argumenten überzeugt werden, da sie die Unterschiede zwischen sich nicht kennen und alle gleich vernünftig und in der gleichen Lage sind. Daher läßt sich die Übereinkunft im Urzustand als die eines zufällig ausgewählten Beteiligten sehen. Wenn irgend jemand nach reiflicher Überlegung eine Gerechtigkeitsvorstellung einer anderen vorzieht, dann tun es alle, und es kommt Einstimmigkeit zustande.“ (TG 162)

Moralische Elemente im Urzustand:

It might be thought that the original position is meant to be morally neutral. Rather, it is intended to be fair between individuals conceived as moral persons with a right to equal respect and consideration in the design of their common institutions.* That is, it is supposed to be fair in the way in which it situates individuals so conceived when they are to adopt principles of justice.
The original position is certainly not neutral in the sense that its description uses no moral concepts. Plainly, the formal conditions of generality, publicity, and finality are moral notions; and so, too, one might as well say, are the constraints expressed by the veil of ignorance. And there are many others, and some not so explicit; for example, intertemporal consistency between generations (in connection with just savings). And, of course, the original position as a whole is not neutral between conceptions of the good in the sense that the principles of justice adopted permit them all equally. Any definite agreement is bound to favor some conceptions over others.
The most that can be expected. then, is that the original position be fair to the parties (conceived as moral persons).  (John Rawls (1975): Fairness to Goodness, CP, S. 266–85: S. 270)
* Moral persons are defined as persons that have a conception of the good and a capacity for a sense of justice.

Abkürzungen:
CP: John Rawls: Collected Papers, hrsg. von Samuel Freeman, Cambridge, Mass. 1999
JAFAR: John Rawls: Justice as Fairness. A Restatement, Cambridge, Mass. 2001
JF: John Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch, in Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978–1989, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 255–92.
TG: John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975