Zitate zu Rawls’ Theorie der Grundgüter nach 1971

A Kantian Conception of Equality (1975)

“Two points are particularly relevant here: first, social primary goods are certain objective characteristics of social institutions and of people’s situation with respect to them; and second, the same index of these goods is used to compare everyone’s social circumstances. It is clear, then, that although the index provides a basis for interpersonal comparisons for the purposes of justice, it is not a measure of individuals’ overall satisfaction or dissatisfaction. Of course, the precise weights adopted in such an index cannot be laid down ahead of time, for these should be adjusted, to some degree at least, in view of social conditions. What can be settled initially is certain constraints on these weights, as illustrated by the priority of the first principle.
Now, that the responsibility of free persons is implicit in the use of primary goods can be seen in the following way. We are assuming that people are able to control and to revise their wants and desires in the light of circumstances and that they are to have responsibility for doing so, provided that the principles of justice are fulfilled, as they are in a well-ordered society. Persons do not take their wants and desires as determined by happenings beyond their control. We are not, so to speak, assailed by them, as we are perhaps by disease and illness so that wants and desires fail to support claims to the means of satisfaction in the way that disease and illness support claims to medicine and treatment.
Of course, it is not suggested that people must modify their desires and ends whatever their circumstances. The doctrine of primary goods does not demand the stoic virtues. Society for its part bears the responsibility for upholding the principles of justice and secures for everyone a fair share of primary goods (as determined by the difference principle) within a framework of equal liberty and fair equality of opportunity. It is within the limits of this division of responsibility that individuals and associations are expected to form and moderate their aims and wants. Thus among the members of a well-ordered society there is an understanding that as citizens they will press claims for only certain kinds of things, as allowed for by the principles of justice. Passionate convictions and zealous aspirations do not, as such, give anyone a claim upon social resources or the design of social institutions. For the purposes of justice, the appropriate basis of interpersonal comparisons is the index of primary goods and not strength of feeling or intensity of desire. The theory of primary goods is an extension of the notion of needs, which are distinct from aspirations and desires. One might say, then, that as citizens the members of a well-ordered society collectively take responsibility for dealing justly with one another founded on a public and objective measure of (extended) needs, while  as individuals and members of associations they take responsibility for their preferences and devotions.”

A Kantian Conception of Equality (1975), Collected Papers, hrsg. von Samuel Freeman, Cambridge, Mass. 1999, S. 254–66: S. 261f.

Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie (1980)

„[W]ir betrachten Personen als durch zwei moralische Vermögen und zwei ihnen korrespondierende höchstrangige Interessen an der Verwirklichung und Ausübung dieser Vermögen gekennzeichnet. Das erste Vermögen ist die Anlage zu einem wirksamen Gerechtigkeitssinn, d. h. die Fähigkeit, die Gerechtigkeitsgrundsätze zu verstehen, sie anzuwenden und aus ihnen heraus zu handeln (und nicht nur in Übereinstimmung mit ihnen). Das zweite moralische Vermögen ist die Befähigung, eine Konzeption des Guten auszubilden, zu revidieren und rational zu verfolgen. Entsprechend den zwei moralischen Vermögen heißt es von moralischen Personen, daß sie zwei höchstrangige Interessen haben, diese Vermögen zu verwirklichen und auszuüben. Indem ich sie »höchstrangig« nenne, will ich zum Ausdruck bringen, daß diese Interessen, so wie die Modellvorstellung einer moralischen Person beschrieben wurde, in höchstem Maße regulativ und wirksam sind. Dies impliziert, daß diese Interessen, wann immer die entsprechenden Umstände vorliegen, Überlegungen und Verhalten beherrschen. Da die Parteien moralische Personen repräsentieren, werden sie ebenfalls durch diese Interessen veranlaßt, die Entwicklung und Ausüübung der moralischen Vermögen zu gewährleisten.
Überdies nehme ich an, daß die Parteien entwickelte moralische Personen repräsentieren, d. h. Personen, die zu jeder gegebenen Zeit über eine festgelegte Ordnung letzter Ziele verfügen, eine bestimmte Konzeption des Guten. Also definiert die Modellvorstellung moralische Personen auch als bestimmte Personen, obwohl die Parteien, vom Standpunkt des Urzustandes aus, den Inhalt ihrer Konzeption des Guten, d. h. ihre letzten Ziele, nicht kennen. Diese Konzeption führt zu einem dritten Interesse, das die Parteien bewegt: ein höherrangiges Interesse daran, ihre Konzeption des Guten, worin auch immer sie bestehen mag, so gut sie können zu schützen und voranzubringen. Der Grund dafür, daß dies ein höherrangiges und kein höchstrangiges Interesse ist, besteht darin, daß es, wie wir später sehen werden, in wichtiger Hinsicht den höchstrangigen Interessen untergeordnet ist.
Nun stellt der Schleier der Unwissenheit in Anbetracht dieser drei regulativen Interessen ein Problem: Wie muß der Urzustand aufgebaut sein, damit die Parteien, als Vertreter von Personen mit diesen Interessen, eine rationale Übereinkunft treffen können? An diesem Punkt wird die Konzeption der Grundgüter eingeführt: indem wir festsetzen, daß die Parteien die Gerechtigkeitskonzeption auf der Basis ihrer Präferenz für diese Güter bewerten, statten wir sie, als Akteure der Konstruktion, mit hinreichend konkreent Wünschen aus, so daß ihre rationalen Überlegungen zu einem eindeutigen Ergebnis führen. Wir suchen nach sozialen Hintergrundbedingungen und allgemein dienlichen Mitteln, die normalerweise notwendig sind, um die zwei moralischen Vermögen ausbilden und ausüben zu können und wirksam eine Konzeption des Gut zu verfolgen. Eine sehr kurze Erklärung der Präferenzen der Parteien für die in Eine Theorie der Gerechtigkeit aufgeführten Grundgüter ist daher diese:
(i) Die Grundfreiheiten (Gedankenfreiheit, Gewissensfreiheit usw.) sind notwendige Hintergrundinstitutionen für die Ausbildung und Ausübung der Fähigkeit, aufgrund einer Konzeption des Guten zu entscheiden, sie zu revidieren und rational zu verfolgen. In ähnlicher Weise erlauben diese Freiheiten die Entwicklung und Ausübung des Sinnes für Recht und Gerechtigkeit unter freien gesellschaftlichen Bedingungen.
(ii) Freizügigkeit und freie Berufswahl vor einem Hintergrund verschiedener Möglichkeiten sind für die Verfolgung letzter Ziele erforderlich und ermöglichen es, Entscheidungen wirksam zu revidieren und zu ändern, wenn dies gewünscht wird.
(iii) Mit verantwortungsvollen Ämtern und Positionen verbundene Befugnisse und Vorrechte sind notwendig, um den verschiedenen selbstregulierenden und sozialen Fähigkeiten des Selbst Entfaltungsmöglichkeiten zu geben.
(iv) Einkommen und Besitz (so allgemein verstanden, wie es nötig ist) sind allgemein dienliche Mittel (da sie einen Tauschwert haben) zur direkten oder indirekten Verwirklichung fast aller unserer Ziele, worin diese auch immer bestehen mögen.
(v) Die sozialen Grundlagen der Selbstachtung sind diejenigen Aspekte grundlegender Institutionen, die normalerweise notwendig dafür sind, daß Individuen einen lebendigen Sinn ihres eigenen Wertes als moralische Personen haben und in der Lage sind, ihre höherrangigen Interessen zu verwirklichen und ihre Ziele mit Elan und Selbstvertrauen zu verfolgen.
Die Richtigkeit dieser Beobachtungen vorausgesetzt, ist die Präferenz der Parteien für Grundgüter rational. [...]
Es gibt viele die Grundgüter betreffende Aspekte, die untersucht werden müssen. Hier erwähne ich nur den Leitgedanken: daß wir Grundgüter identifizieren, indem wir fragen, welche Dinge als soziale Bedingungen und allgemein dienliche Mittel in der Regel notwendig sind, um Menschen in die Lage zu versetzen, ihre moralischen Vermögen auszubilden und auszuüben sowie ihre letzten Ziele zu verfolgen (von denen angenommen wird, daß sie innerhalb bestimmter Grenzen liegen). Hier müssen wir uns die sozialen Erfordernisse und normalen Bedingungen menschlichen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft vor Augen halten. Beachten Sie bitte, daß es der Begriff der moralischen Person mit bestimmten höchstrangigen Interessen ist, durch den festgelegt wird, was im Rahmen der Modellvorstellungen als Grundgut zählt. Daher sind diese Güter nicht als allgemein dienliche Mittel zur Verwirklichung dessen zu verstehen, was eine umfassende empirische oder historische Übersicht als letzte Ziele erweisen könnte, die Menschen gewöhnlich oder normalerweise unter allen sozialen Bedingungen gemeinsam haben. Es mag wenige solcher Ziele geben, wenn es überhaupt welche gibt; und diejenigen, die es gibt, sind vielleicht nicht für die Konstruktion einer uns vernünftig erscheinenden Gerechtigkeitskonzeption zu gebrauchen. Das Verzeichnis der Grundgüter beruht nicht auf dieser Art von allgemeinen Tatsachen, obwohl sie auf allgemeinen sozialen Tatsachen beruht, sobald der Begriff der Person und ihre höchstrangigen Interessen feststehen (hier sollte ich anmerken, daß ich, indem ich die Konzeption der Grundgüter von einem bestimmten Begriff der Person abhängig mache, die Bemerkungen in Eine Theorie der Gerechtigkeit revidiere, wo es so erscheinen mag, als werde das Verzeichnis der Grundgüter als das Ergebnis einer rein psychologischen, statistischen oder historischen Untersuchung aufgefaßt*).“

*„Vgl. z. B. Rawls 1971: Abschnitt 15, S. 112ff. (engl. Orig. S. 92ff.), wo Grundgüter erstmals in einiger Ausführlichkeit erörtert werden; vgl. auch S. 166, 285f., 293, 472f. (engl. Orig. S. 142f., 253, 260, 433). Die Frage, ob die Darstellung von Grundgütern Sache der Gesellschaftstheorie ist oder hohem Maße vom Begriff der Person abhängt, wird nicht besprochen.“

Kantischer Konstruktivismus in der Moraltheorie (1980), in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 80–158: S. 93–96.

Der Vorrang der Grundfreiheiten (1983)

„Das Problem besteht darin, daß es den Parteien unter den Beschränkungen des Schleiers der Unwissenheit unmöglich erscheinen mag, das Gute dieser Personen zu ermitteln und daher eine rationale Übereinkunft zu ihrerm Vorteil zu treffen. Um dieses Problem zu lösen, führen wir den Gedanken der Grundgüter ein und stellen ein Verzeichnis verschiedener Dinge auf, die unter diese Rubrik fallen. Der Hauptgedanke besteht darin, daß Grundgüter anhand der Frage identifiziert werden können, welche sozialen Bedingungen und allgemein dienlichen Mittel generell erforderlich sind, um es Personen zu ermöglichen, ihre bestimmten Konzeptionen des Guten zu verfolgen und ihre beiden moralischen Vermögen zu entwickeln und auszuüben. Hier müssen wir die sozialen Erfordernisse und normalen Umstände des menschlichen Lebens in einer demokratischen Gesellschaft betrachten. Die Grundgüter sollen notwendige Bedingungen für die Verwirklichung der moralischen Vermögen und allgemein dienliche Mittel für einen hinreichend weiten Bereich letzter Ziele sein. Dies setzt verschiedene allgemeine Tatsachen über menschliche Wünsche und Möglichkeiten voraus, über charakteristische Phasen und Erfordernisse der Erziehung des Menschen, die Verhältnisse der gegenseitigen sozialen Abhängigkeiten und vieles mehr. Wir benötigen zumindest eine ungefähre Darstellung rationaler Lebenspläne, die zeigt, warum diese normalerweise eine bestimmte Struktur haben und von den Grundgütern im Hinblick auf ihre Entstehung, Überprüfung und Ausübung abhängen. Man entscheidet nicht, welche Güter zu den Grundgütern gehören, indem man fragt, welche allgemeinen Mittel notwendig sind, um diejenigen letzten Ziele zu erreichen, von denen ein umfassender empirischer oder historischer Überblick zeigen könnte, daß die Menschen sie üblicherweise oder normalerweise gemeinsam haben. Es mag, wenn überhaupt, wenige solcher Ziele geben, und die, es gibt, dienen vielleicht nicht den Zwecken einer Gerechtigkeitsvorstellung. Die Charakterisierung als Grundgut beruht nicht auf solchen historischen oder sozialen Fakten. Gleichwohl beruft sich die Bestimmung von Grundgütern auf ein Wissen von den allgemeinen Umständen und Erfordernissen des sozialen Lebens, allerdings nur im Lichte eines vorgegebenen Begriffs der Person.
Folgende fünf Arten von Grundgütern (verbunden mit einem Hinweis, warum ein jedes benutzt wird) wurden in Eine Theorie der Gerechtigkeit aufgeführt:
(1) Die Grundfreiheiten (Denk- und Gewissensfreiheit usw.): diese Freiheiten bilden die institutionellen Rahmenbedingungen, die für die Entwicklung und den uneingeschränkten und informierten Gebrauch der beiden moralischen Vermögen notwendig sind [...]; diese Freiheiten sind auch (in den Grenzen der Gerechtigkeit) zum Schutz eines weiten Bereichs festgelegter Konzeptionen des Guten unabdingbar;
(2) Freizügigkeit und freie Berufswahl vor einem Hintergrund verschiedener Möglichkeiten: diese Möglichkeiten erlauben es, verschiedene letzte Ziele zu verfolgen, und verleihen einer Entscheidung Wirksamkeit, diese zu überprüfen und zu revidieren, wenn wir es wünschen;
(3) Mit verantwortungsvollen Ämtern und Stellungen verbundene Befugnisse und Vorrechte: sie geben den verschiedenen selbstregulierenden und sozialen Fähigkeiten des Selbst Entfaltungsmöglichkeiten;
(4) Einkommen und Besitz, im weiten Sinne verstanden als allgemein dienliche Mittel (die einen Tauschwert haben): Einkommen und Besitz werden gebraucht, um direkt oder indirekt einen weiten Bereich von Zielen zu erreichen, welche das auch immer sein mögen;
(5) die sozialen Grundlagen der Selbstachtung: das sind diejenigen Aspekte gesellschaftlicher Institutionen, die normalerweise dafür notwendig sind, daß Bürger ein lebendiges Gefühl des eigenen Wertes haben und fähig sind, ihre moralischen Vermögen zu entwickeln und auszuüben und ihre Absichten und Ziele mit Selbstvertrauen voranzutreiben.
Man beachte, daß die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze die Grundstruktur einer Gesellschaft danach bewerten, wie deren Institutionen einige der Grundgüter, wie z. B. die Grundfreiheiten, schützen und verteilen, und wie sie die Produktion und Verteilung anderer Grundgüter, z. B. Einkommen und Besitz, regeln. So muß im allgemeinen erklärt werden, warum die Parteien dieses Verzeichnis der Grundgüter benutzen und warum es für sie rational ist, die beiden Gerechtigkeitsgrundsätze zu wählen“

Der Vorrang der Grundfreiheiten (1983), in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 159–254: S. 177–79.

Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten (1988)

„Die Rolle der Idee der Grundgüter ist folgende: Ein grundlegendes Merkmal einer wohlgeordneten Gesellschaft besteht darin, daß es ein öffentliches Verständnis nicht nur davon gibt, welche Arten von Ansprüchen Bürger angemessenerweise geltend machen können, wenn Fragen der politischen Gerechtigkeit aufkommen, sondern auch davon, wie solche Ansprüche zu begründen sind. Dieses Verständnis ist erforderlich, um Übereinstimmung darüber zu erreichen, wie die verschiedenen Ansprüche der Bürger und ihr relatives Gewicht eingeschätzt werden soll. Die Erfüllung dieser angemessenen Ansprüche wird öffentlich als vorteilhaft akzeptiert und daher als Verbesserung der Situation der Bürger im Sinne der politischen Gerechtigkeit gewertet. Eine effektive öffentliche Gerechtigkeitskonzeption erfordert deshalb eine politische Konzeption davon, was gegenseitig als vorteilhaft in diesem Sinne anerkannt wird. Im politischen Liberalismus wird das Problem interpersoneller Nutzenvergleiche zu der Frage, wie es angesichts einander widerstreitender Konzeptionen des Guten möglich ist, ein politisches Einverständnis darüber zu erreichen, welche Ansprüche als angemessen gelten sollen.
Die Schwierigkeit ist, daß der Staat ebensowenig die Erfüllung der rationalen Präferenzen und Wünsche seiner Bürger maximieren oder die menschliche Vortrefflichkeit und die Werte der Vollkommenheit fördern kann (wie es Utilitarismus und Perfektionismus fordern), wie er Katholizismus, Protestantismus oder irgendeine andere Religion fördern darf. Keine dieser Auffassungen über Bedeutung, Wert und Zweck des menschlichen Lebens, wie sie von den entsprechenden umfassenden religiösen oder philosophischen Konzeptionen des Guten bestimmt werden, wird von Bürgern allgemein akzeptiert; weshalb die Verfolgung einer jeden von ihnen durch seine grundlegenden Institutionen dem Staat ein sektiererisches Gepräge gäbe. Um eine gemeinsame, für politische Zwecke geeignete Idee des Guten der Bürger zu finden, sucht der politische Liberalismus nach einer Idee des rationalen Vorteils innerhalb einer politischen Konzeption, die unabhängig von jeder besonderen umfassenden Lehre ist und so zum Brennpunkt eines übergreifenden Konsenses werden kann.
In Gerechtigkeit als Fairneß spricht die Konzeption der Grundgüter dieses praktische politische Problem an. Die vorgeschlagene Antwort beruht darauf, eine teilweise Ähnlichkeit in den Strukturen der zulässigen Konzeptionen des Guten der als freie und gleiche Personen angesehenen Bürger zu erkennen. Dabei sind die zulässigen Konzeptionen solche umfassenden Lehren, denen nachzustreben nicht durch die Grundsätze politischer Gerechtigkeit ausgeschlossen wird. Obwohl die Bürger nicht derselben (zulässigen) umfassenden Konzeption in allen ihren letzten Zielen und Loyalitäten zustimmen, genügen zwei Dinge für eine gemeinsame Idee vom rationalen Vorteil: erstens, daß alle Bürger das gleiche politische Selbstverständnis von sich als freie und gleiche Personen haben, und zweitens, daß ihre (zulässigen) umfassenden Konzeptionen des Guten, wie verschieden ihr Inhalt und die sie begleitenden religiösen und philosophischen Lehren auch sein mögen, für ihr Fortkommen ungefähr dieselben Grundgüter erfordern, also dieselben Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen und allgemein dienlichen Mittel wie Einkommen und Besitz, die alle durch dieselben gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung gesichert werden. Wir sagen, daß die Bürger als freie und gleiche Personen diese Güter benötigen und daß Ansprüche auf diese Güter als angemessene Ansprüche gelten.
Die Stammliste der Grundgüter (die wir bei Bedarf ergänzen können) hat fünf Rubriken: (1) Grundrechte und Grundfreiheiten, von denen ebenfalls eine Liste aufgestellt werden kann; (2) Freizügigkeit und freie Berufswahl vor dem Hintergrund unterschiedlicher Möglichkeiten; (3) Befugnisse und Vorrechte, die mit den Ämtern und Positionen der politischen und ökonomischen Institutionen der Grundstruktur verbunden sind; (4) Einkommen und Besitz; und schließlich (5) die gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung. Die Liste führt neben Einkommen und Besitz hauptsächlich Merkmale von Institutionen an, das heißt Grundrechte und Grundfreiheiten, institutionelle Möglichkeiten sowie Vorrechte von Ämtern und Positionen. Die gesellschaftlichen Grundlagen der Selbstachtung werden in institutionellen Begriffen erklärt, ergänzt durch Merkmale der öffentlichen politischen Kultur wie etwa der öffentlichen Anerkennung und Akzeptanz der Gerechtigkeitsgrundsätze.
Was wir suchen, ist eine tragfähige öffentliche Grundlage für interpersonelle Vergleiche, formuliert in Begriffen offen zutage liegender objektiver Merkmale der gesellschaftlichen Lebensumstände von Bürgern. Mit gebührender Vorsicht können wir die Liste im Prinzip um andere Güter erweitern, z. B. Freizeit, und sogar bestimmte mentale Zustände, etwa die Abwesenheit körperlicher Schmerzen. Ich will dies hier nicht weiterverfolgen. Entscheidend ist, daß wir bei der Einführung weiterer Güter die Grenzen des Politischen und der Praktikabilität anerkennen: erstens müssen wir innerhalb der Grenzen von Gerechtigkeit als Fairneß als einer politischen Gerechtigkeitskonzeption bleiben, die Brennpunkt eines übergreifenden Konsenses werden kann; und zweitens müssen wir die einschränkenden Bedingungen der Einfachheit und der Verfügbarkeit von Informationen beachten, denen jede brauchbare politische Konzeption (im Gegensatz zu einer umfassenden Morallehre) unterliegt.“

Der Vorrang des Rechten und die Idee des Guten (1988), in Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, hrsg. von Wilfried Hinsch, Frankfurt a. M. 1992, S. 364–97: S. 369–72.