Erläuterungen zu den Indifferenzkurven in Rawls’ Eine Theorie der Gerechtigkeit

(Zu Eine Theorie der Gerechtigkeit, § 13)

Claus Beisbart und Jörg Schroth

 


Einleitung

In § 11 (d81/e53)1 von Eine Theorie der Gerechtigkeit führt Rawls seine beiden Gerechtigkeitsgrundsätze in einer ersten, vorläufigen Formulierung ein. Der zweite Grundsatz lautet in dieser vorläufigen Formulierung:

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen. (d81/e53)

Diese Formulierung lässt nach Rawls vier Deutungen zu, von denen er die ersten drei in § 12 erläutert. Rawls macht sich die vierte Deutung – die der demokratischen Gleichheit – zu eigen und erläutert sie in § 13. Diese Deutung erhält man, wenn man den Ausdruck „jedem offen“ in Bedingung (b) als faire Chancengleichheit und den Ausdruck „jedermanns Vorteil“ in Bedingung (a) als Unterschiedsprinzip (difference principle, auch als „Differenzprinzip“ übersetzt) deutet. Das Unterschiedsprinzip führt Rawls wie folgt ein:

[Das Unterschiedsprinzip] beseitigt die Unbestimmtheit des Pareto-Prinzips, indem es eine bestimmte Position auszeichnet, von der aus die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ungleichheiten der Grundstruktur zu beurteilen sind.2 Geht man von den Institutionen aus, wie sie von der gleichen Freiheit für alle und der fairen Chancengleichheit gefordert werden, so sind die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen. Der intuitive Gedanke ist der, daß die Gesellschaftsordnung nur dann günstigere Aussichten für Bevorzugte einrichten und sichern darf, wenn das den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht. (d95f./e65)

Indifferenzkurven

Auf S. d96f./e66f. erläutert Rawls das Unterschiedsprinzip3 mit Hilfe einiger Diagramme, die beispielhaft die Aussichten zweier Personen x1 und x2 betrachten. Dabei ist x1 die „am besten gestellte repräsentative Person in der Grundstruktur“ (d97/e66) und x2 die am schlechtesten gestellte repräsentative Person in der Grundstruktur. Mit den Aussichten sind Aussichten bezüglich des Wohlergehens der beiden Personen (d85/e56) gemeint, wobei es im Rahmen der Diskussion des Unterschiedsprinzips in erster Näherung um die Verteilung von Einkommen und Vermögen geht (d82/e53).

In den Diagrammen stellt jeder Punkt der Zeichenebene eine Kombination von Aussichten für x1 und x2 dar. Dabei ist die waagerechte Achse für die Aussichten von x1 maßgeblich, die senkrechte Achse für die von x2. Das heißt, die Aussichten für x1 verbessern sich, wenn man im Diagramm nach rechts geht; die Aussichten von x2 verbessern sich, wenn man im Diagramm nach oben geht. Bewegt man sich also ausgehend von einem beliebigen Punkt nach rechts oben, verbessern sich die Aussichten für beide Personen. Geht man dagegen nach rechts unten, verbessern sich die Aussichten für x1, während sich die Aussichten für x2 verschlechtern.

Jede Kombination von Aussichten für x1 und x2 definiert (wenigstens teilweise) einen gesellschaftlichen Zustand. Jeder Punkt im Diagramm steht daher für einen gesellschaftlichen Zustand. Nun sind oft nicht alle gesellschaftlichen Zustände oder alle Verteilungen realisierbar. Wenn man etwa ausgehend von einem bestimmten gesellschaftlichen Zustand die Aussichten für x1 verbessert, dann können möglicherweise nicht auch die Aussichten für x2 verbessert werden. Die Zustände, die eine bestimmte Gesellschaft tatsächlich realisieren kann, könnten zum Beispiel auf der Kurve OP liegen, d. h. auf der Kurve, die die beiden Punkte O und P verbindet.

Diagramm 1
Diagramm 1: Kurve OP

„O“ steht für „origin“ (e66), den Ursprung, und stellt „den Zustand dar, in dem alle gesellschaftlichen Grundgüter4 gleich verteilt sind“ (d97/e66) und in dem daher alle Personen gleich gute Aussichten haben.5 Wenn sich der Zustand der Gesellschaft ausgehend von O in Richtung P bewegt, verbessern sich zunächst die Aussichten beider Personen x1 und x2. Dies ist möglich, „weil angenommen wird, daß die gesellschaftliche Zusammenarbeit im Rahmen der Grundstruktur für beide Partner vorteilhaft ist.“ (d97/e66) Kooperation kann sich also nach Rawls für alle Beteiligten lohnen. Als Beispiel kann man sich vorstellen, dass eine Gesellschaft durch Arbeitsteilung bestimmte Produktionsverhältnisse schafft, indem sie etwa zwei Funktionen oder gesellschaftliche Rollen ausbildet, z. B. die der Gutsverwalter (x1) und der Landarbeiter (x2). Wenn man die Aussichten der Gutsverwalter verbessert, verbessern sich zunächst ausgehend von O auch die Aussichten der Landarbeiter – zum Beispiel weil die Gutsverwalter ihre verbesserten Aussichten dazu nutzen, Investitionen zu tätigen, die auch den Landarbeitern nutzen (vgl. d99/e67f.). Der Punkt, auf den die Kurve ausgehend von O zuläuft, heißt bei Rawls P, wobei das „P" für Produktion steht – durch die Organisation der Produktion kann sich die Gesellschaft auf P zubewegen (Gerechtigkeit als Fairness, d105/e61).

Wenn man nun annimmt, dass sich die Aussichten der beiden Personen miteinander vergleichen lassen und quantitativ bewertet werden können, dann ist die Person x1 überall auf der Kurve OP besser gestellt als x2. Das liegt daran, dass die Kurve ganz unterhalb der Winkelhalbierenden verläuft. Auf der Winkelhalbierenden herrscht Gleichverteilung – jeder Punkt auf der Winkelhalbierenden ist „genau so weit rechts wie er oben ist“ und x1 und x2 haben gleich gute Aussichten. Wenn man sich jedoch ausgehend von einem Punkt der Winkelhalbierenden nach rechts unten bewegt, dann verbessern sich die Aussichten für x1, während sich die Aussichten von x2 verschlechtern. Daher ist in diesem Bereich x1 gegenüber x2 begünstigt.

Was man Diagramm 1 jedoch nicht entnehmen kann, ist die Bewertung der Zustände auf der Kurve OP: Welcher von zwei gesellschaftlichen Zuständen ist der bessere Zustand? Welcher ist der beste Zustand und soll von einer Gesellschaft angestrebt werden? Die Bewertung gesellschaftlicher Zustände kann nach unterschiedlichen Kriterien erfolgen, z. B. danach, wie gerecht die Zustände sind oder wie groß ihr Gesamtnutzen ist. Um die Bewertung der Zustände in den Diagrammen graphisch darzustellen, benutzt Rawls Indifferenzkurven. Indifferenzkurven verbinden Zustände, zwischen denen man indifferent ist, die man also als gleich gut bewertet.

Diagramme mit Indifferenzkurven kann man so ähnlich lesen wie Landkarten mit Höhenlinien. An sich wollen Landkarten die Form von dreidimensionalen Gebilden (Bergen etc.) darstellen, aber das geht in zwei Dimensionen nicht direkt. Deshalb bedient man sich eines Tricks und bildet auf der Landkarte die geographischen Verhältnisse zunächst nur in zwei Dimensionen (Länge und Breite, keine Höhe) ab. Information über die dritte Dimension gibt man mit Höhenlinien wieder. Diese verbinden Punkte gleicher Höhe. Oft wird noch die Höhe, die einer Höhenlinie entspricht, neben die Höhenlinie geschrieben. So kann man sich ein Bild über die Höhenverhältnisse machen und zum Beispiel erkennen, wo sich ein Berggipfel befindet.

In Rawls’ Diagrammen geht es auch um „dreidimensionale Information“. Statt um Länge, Breite und Höhe geht es um die Aussichten einer repräsentativen Person x1, die Aussichten einer repräsentativen Person x2 des gesellschaftlichen Zustands, der sich durch Kombination der Aussichten ergibt. Mögliche Aussichten der beiden repräsentativen Personen x1 und x2 werden in der Zeichenebene (der Fläche des Papiers, auf das das Diagramm gedruckt ist) abgebildet. Um jedem gesellschaftlichen Zustand seine Bewertung zuzuordnen, benötigt man eine dritte Dimension. Diese kann man aber in der zweidimensionalen Zeichenebene nicht darstellen. Um wenigstens anzudeuten, wie es mit der dritten Dimension beschaffen ist, gibt Rawls „Höhenlinien“ an, die Zustände verbinden, welche gleich gut sind. Diese Höhenlinien heißen Indifferenzkurven.6

Indifferenzkurven für den klassischen Utilitarismus – zu Rawls’ Abbildung 8

Im klassischen Utilitarismus wird ein Zustand nur danach beurteilt, wie hoch sein Gesamtnutzen ist. Dabei ergibt sich der Gesamtnutzen, indem man die Nutzensumme bildet. Es wird also angenommen, dass sich der Nutzen des Zustands für jede Person quantitativ beurteilen lässt, und die Nutzenwerte für die einzelnen Personen werden aufaddiert. Wie der Gesamtnutzen auf einzelne Personen dabei verteilt ist, spielt für Utilitaristen keine Rolle. Deshalb gilt:
(i) Ein Zustand mit einem größeren Gesamtnutzen ist besser als ein Zustand mit einem kleineren Gesamtnutzen.
(ii) Zustände mit gleich großem Gesamtnutzen sind gleich gut. Aus Sicht des klassischen Utilitarismus ist also von zwei Zuständen mit gleichem Gesamtnutzen kein Zustand vorzugswürdiger als der andere, d. h., man ist indifferent zwischen diesen Zuständen.

Im klassischen Utilitarismus liegen daher alle Zustände mit dem gleichen Gesamtnutzen auf einer Indifferenzkurve. Für jede Größe des Gesamtnutzens lässt sich eine Indifferenzkurve zeichnen, auf der alle Zustände mit diesem Gesamtnutzen liegen. Es liegen also z. B. alle Zustände mit einem Gesamtnutzen von 50 Nutzeneinheiten auf einer Indifferenzkurve, alle Zustände mit einem Gesamtnutzen von 40 Nutzeneinheiten auf einer anderen Indifferenzkurve usw.
Da im klassischen Utilitarismus ein Zustand mit einem größeren Gesamtnutzen besser ist als ein Zustand mit einem kleineren Gesamtnutzen, ist jeder Zustand auf der Indifferenzkurve, auf der die Zustände mit 50 Nutzeneinheiten liegen, besser als jeder Zustand auf der Indifferenzkurve, auf der die Zustände mit 40 Nutzeneinheiten liegen.

Das lässt sich mit einem Beispiel illustrieren. In den folgenden Tabellen sind zunächst einige gesellschaftliche Zustände (a, b, c, d, e, f, g) aufgeführt. Da Utilitaristen die Aussichten einer Person mit einem Nutzenwert beurteilen, werden in der Tabelle die Nutzenwerte für die beteiligten Personen angegeben. Außerdem findet sich in der letzten Spalte der Gesamtnutzen. Er ergibt sich, indem man die Nutzenwerte für die beiden Personen aufaddiert.


Zustände Nutzen für x1 Nutzen für x2 Gesamtnutzen
a 50 0 50
b 30 20 50
c 10 40 50
d 0 50 50

 

Zustände Nutzen für x1 Nutzen für x2 Gesamtnutzen
e 40 0 40
f 20 20 40
g 0 40 40

Klassische Utilitaristen sind nun indifferent zwischen den Zuständen a, b, c, d und indifferent zwischen den Zuständen e, f, g. Sie ziehen jedoch die Zustände a, b, c, d den Zuständen e, f, g vor, da erstere einen größeren Gesamtnutzen haben als letztere, nämlich 50 statt 40 Nutzeneinheiten.
Was bedeutet das nun für die Indifferenzkurven? Da die Zustände a, b, c und d als gleich gut bewertet werden, müssen sie auf einer Indifferenzkurve liegen. Ebenso liegen die Zustände e, f, g auf einer Indifferenzkurve. Im folgenden Diagramm sind die gesellschaftlichen Zustände a bis g als Punkte durch Kreuze markiert. Außerdem sind die Punkte, die für die Zustände a, b, c, d stehen, durch eine Kurve verbunden. Das ergibt gerade eine Indifferenzkurve. Sie verbindet alle Punkte (oder Zustände), denen ein Gesamtnutzen von 50 entspricht. Es stellt sich heraus, dass die Kurve die Form einer Gerade hat. Auch die Indifferenzkurve für die Zustände e, f, g ist eine Gerade.7

Diagramm 2
Diagramm 2: Indifferenzkurven des klassischen Utilitarismus

Je weiter rechts eine Indifferenzkurve liegt, desto größer ist der Gesamtnutzen der auf ihr liegenden Zustände: Der Gesamtnutzen der auf der Indifferenzkurve ad liegenden Zustände beträgt jeweils 50 Nutzeneinheiten und ist damit größer als der Gesamtnutzen der Zustände der auf der links davon liegenden Indifferenzkurve eg, der jeweils nur 40 Nutzeneinheiten beträgt.

Aus Sicht des klassischen Utilitarismus soll man also versuchen, einen Zustand herbeizuführen, der auf einer möglichst weit rechts liegenden Indifferenzkurve liegt. Was dies für eine Gesellschaft bedeutet, in der nur die Zustände auf der Kurve OP (aus Diagramm 1) erreichbar sind, kann man erkennen, wenn man den Indifferenzkurven in Diagramm 2 die Kurve OP aus Diagramm 1 hinzufügt, so dass man folgendes Diagramm erhält:

Diagramm 3
Diagramm 3: Kurve OP mit Indifferenzkurven des klassischen Utilitarismus

Utilitaristen müssen denjenigen Punkt auf der Kurve wählen, der sich auf einer Indifferenzkurve mit einem möglichst hohen Gesamtnutzen befindet. In dem Diagramm ist das Punkt a. Hier berührt OP eine Indifferenzkurve, anstatt sie zu schneiden. Solange man sich von O ausgehend a nähert, gewinnt man an Nutzen; wenn man aber von a weiter in Richtung P geht, verliert man wieder Nutzen. Utilitaristen finden also den Punkt a optimal.

Ganz allgemein (also nicht nur für den Utilitarismus) gilt, dass eine Kurve von möglichen Zuständen in ihrem optimalen Punkt keine Indifferenzkurve schneidet. Denn wenn sie eine Indifferenzkurve schneidet, stößt sie vor und hinter dem Punkt auf andere Indifferenzkurven, und in einer Richtung wird es eine Verbesserung geben. Daher berührt die Kurve OP in ihrem optimalen Punkt eine Indifferenzkurve.

In Diagramm 3 wurde nicht berücksichtigt, dass nach Rawls x1 und x2 repräsentative Personen (für die am besten gestellten und die am schlechtesten gestellten Personen) sind. „Da jedoch x1 und x2 repräsentative Personen sind, sind sie mit der Anzahl der Menschen zu gewichten, die sie repräsentieren. Da vermutlich x2 mehr Menschen repräsentiert als x1, werden die Indifferenzkurven flacher […]. Das Zahlenverhältnis der begünstigten zu den benachteiligten Personen legt die Steigung der Geraden fest.“ (d98/e67) Berücksichtigt man diese Gewichtung, erhält man Rawls’ Abbildung 8 auf S. d97/e67:

Diagramm 4
Diagramm 4: Rawls’ Abbildung 88

Indifferenzkurven für Rawls’ Unterschiedsprinzip – zu Rawls’ Abbildungen 5 und 6

Rawls lehnt das utilitaristische Kriterium zur Bewertung gesellschaftlicher Zustände ab, und schlägt als Alternative sein Unterschiedsprinzip vor. Dessen Grundgedanken formuliert er wie folgt:

Geht man von den Institutionen aus, wie sie von der gleichen Freiheit für alle und der fairen Chancengleichheit gefordert werden, so sind die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten begünstigten Mitglieder der Gesellschaft beitragen. Der intuitive Gedanke ist der, daß die Gesellschaftsordnung nur dann günstigere Aussichten für Bevorzugte einrichten und sichern darf, wenn das den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht. (d95f./e65)9

Schon an der Formulierung wird deutlich, dass es bei Rawls auf die Verteilung der Aussichten ankommt – Rawls spricht von Bevorzugten und Benachteiligten und sieht, dass die meisten Verteilungen keine Gleichverteilungen sind, sondern Bevorzugung und Benachteiligung erzeugen. Rawls’ Unterschiedsprinzip fordert, dass Begünstigung nur dann zu einer Verbesserung (zu mehr Gerechtigkeit) führt, wenn auch die am wenigsten Begünstigten davon profitieren. Dies lässt sich am Beispiel der Kurve OP in Diagramm 1 illustrieren:

Diagramm 5
Diagramm 5: Kurve OP

Wieder wird angenommen, dass nur die Zustände auf der Kurve OP realisierbar sind. x1 ist weiterhin besser gestellt als x2, da sich die Kurve OP ja ganz unterhalb der Winkelhalbierenden befindet Alle Zustände auf der Winkelhalbierenden entsprechen dagegen einer Gleichverteilung.

Wenn wir bei O beginnen, starten wir bei einer Gleichverteilung – es gibt keine Begünstigten und Benachteiligten. Wenn sich die Gesellschaft auf Punkt b zubewegt, entfernt sie sich von der Gleichverteilung und x1 profitiert mehr als x2. Trotz dieser Ungleichheit handelt es sich nach Rawls insgesamt um Verbesserungen des Gesamtzustandes, denn den Verbesserungen für x1 entsprechen anfangs auch Verbesserungen für x2. Beim Punkt b werden die Aussichten für x2 optimal, weitere Veränderungen (in Richtung auf P), stellen zwar x1 besser, aber der Verbesserung der Aussichten bei x1 entspricht nun eine Verschlechterung der Aussichten von x2. Genau das lässt das Unterschiedsprinzip jedoch nicht zu. Nach Rawls ist also der beste Zustand, die beste Verteilung von Aussichten bei Punkt b und nicht bei Punkt a. Man darf also nach Rawls auf der Kurve nicht so weit gehen wie das Utilitaristen verlangen.

Im Falle des Utiltarismus berührte die Kurve OP im optimalen Zustand eine Indifferenzkurve. Genau das erwarten wir nun auch im Fall von Rawls’ Unterschiedsprinzip. Im Punkt b kann die Kurve OP aber nur eine horizontale Gerade berühren:

Diagramm 6
Diagramm 6

Daher können wir vermuten, dass die Indifferenzkurven nach Rawls wenigstens teilweise horizontale Geraden sind.

Das ist in der Tat in weiten Teilen der Fall. In seiner Abbildung 5 zeichnet Rawls die Indifferenzkurven für sein Unterschiedsprinzip:

Diagramm 7
Diagramm 7: Rawls’ Abbildung 5

Doch warum sind die Indifferenzkurven nach Rawls Geraden? Und warum gibt es auch vertikale Geraden? Um das zu verstehen, genügt es zunächst, wie in Rawls’ Abbildung 6, den Teil des Bildes unter der Winkelhalbierenden zu analysieren:

Diagramm 8
Diagramm 8: Rawls’ Abbildung 6

Unterhalb der Winkelhalbierenden beschränken wir uns auf Zustände, in denen x1 der Bevorzugte ist. Der obigen Formulierung des Unterschiedsprinzips zufolge kann es nun keinen Bereich geben, in dem eine Indifferenzkurve nach rechts unten abfällt. Denn wenn eine Indifferenzkurve so fällt, bedeutet das, dass es gleichgültig ist, ob man die Aussichten des bevorzugten x1 verbessert und die Aussichten des benachteiligten x2 dabei verschlechert oder ob man dort bleibt, wo man ist. Nach Rawls ist das aber nicht gleichgültig! Rawls hält vielmehr eine solche Veränderung für eine Verschlechterung.
Es ist aber auch plausibel anzunehmen, dass Indifferenzkurven nicht nach rechts oben steigen. Denn wenn eine Indifferenzkurve so steigt, ist es gleichgültig, ob wir bei einem Zustand bleiben oder eine Veränderung durchführen, die sowohl x1 als auch x2 nützt. Aber eine Veränderung, die allen nützt, ist sicher nicht gleichgültig! Daher kann eine Indifferenzkurve nicht steigen. So bleibt für Rawls nur die Möglichkeit, dass die Indifferenzkurven weder fallen noch steigen, dass sie also flache, horizontale Linien sind.

Bisher haben wir uns überlegt, wie die Indifferenzkurven nach Rawls im Bereich unter der Winkelhalbierenden aussehen müssen. Den Bereich über der Winkelhalbierenden kann man durch eine Symmetrieüberlegung fixieren. Denn an und für sich sind x1 und x2 ja nicht unterschieden. Im Prinzip könnte auch x2 der Bevorzugte sein. Dann befinden wir uns im Bereich oberhalb der Winkelhalbierenden. Hier müssen die Indifferenzkurven aus der Sicht von x2 so aussehen, wie die Indifferenzkurven unter der Winkelhalbierenden für x1 aussahen. Das ist aber dann der Fall, wenn die Indifferenzkurven in diesem Bereich vertikale Linien sind. Konkret: Die Indifferenzkurven unter der Winkelhalbierenden besagen, dass sich der Zustand weder verschlechtert noch verbessert, wenn x1 bessere Aussichten erhält und sich für x2 nichts verändert. Analog darf sich die Wertigkeit des Gesamtzustands nicht verändern, wenn x2 oberhalb der Winkelhalbierenden bessere Aussichten erhält und sich für x1 nichts ändert. Das beschreibt aber eine vertikale Linie. Etwas anders ausgedrückt: Aufgrund der grundsätzlichen Symmetrie zwischen x1 und x2 muss das gesamte Diagramm unverändert bleiben, wenn man eine Spiegelung an der Winkelhalbierenden vornimmt. Daher kann man den Teil oberhalb der Winkelhalbierenden aus dem Teil unterhalb der Winkelhalbierenden durch Spiegelung an der Winkelhalbierenden gewinnen.

Man kann die Indifferenzkurven nach Rawls auch anders verstehen. Sie sind „Höhenlinien“ einer bestimmten „Gebirgsformation“ (eigentlich: einer bestimmten Bewertungsfunktion). Diese „Gebirgsformation“ kann man mathematisch ganz einfach angeben. Wenn u1 die Güte der Aussichten von x1 beziffert und u2 die Güte der Aussichten von x2 beziffert, dann ist die Höhe des Berges (oder die Güte des gesellschaftlichen Zustands) das Minimum von u1 und u2. Dieses Minimum fällt aber gerade mit dem Maß der Aussichten für den Benachteiligten zusammen. Für Rawls richtet sich also die Bewertung des gesellschaftlichen Zustands nur nach den Aussichten, die der Benachteiligte hat. Das legte bereits die oben zitierte Formulierung des Unterschiedsprinzips nahe. Wenn also zum Beispiel x1 Aussichten der Güte 3 hat, und x2 Aussichten der Güte 2, dann beträgt die Höhe des Berges (die Güte des gesellschaftlichen Zustands) 2.

Die Indifferenzkurven in Rawls’ Diagramm sind nun genau die Höhenlinien des eben definierten „Gebirgsmassivs“. Das kann man sich wie folgt überlegen. Im Diagramm 7 beginnen wir beim Punkt j auf der Winkelhalbierenden und wandern dann auf einer horizontalen Linie nach rechts. Sobald wir den Punkt j verlassen, sind wir unterhalb der Winkelhalbierenden, daher ist x1 der Begünstigte. Rawls’ Unterschiedsprinzip gebietet daher, dass sich die Bewertung des gesellschaftlichen Gesamtzustands nur nach den Aussichten des Benachteiligten, also x2, richtet. Diese Aussichten ändern sich aber nicht, solange wir auf der horizontalen Linie bleiben! Daher bleibt auch die Bewertung des gesellschaftlichen Gesamtzustands konstant. Die horizontale Linie ist daher eine Indifferenzkurve.
Bewegen wir uns jetzt von j auf einer horizontalen Linie nach links. Da wir uns jetzt oberhalb der Winkelhalbierenden befinden, ist x1 der Benachteiligte. Wenn wir uns von j nach links bewegen, dann verschlechtern sich die Aussichten von x1. Und weil x1 der Benachteiligte ist, verschlechtert sich damit nach Rawls der gesellschaftliche Zustand. Daher kreuzen wir Höhenlinien, es geht sozusagen bergab.

Insgesamt verbinden die Indifferenzkurven in Rawls’ Abbildung 5 also Zustände, in denen sich die Aussichten des schlechter Gestellten und damit nach Rawls auch die Gesamtbewertung nicht ändert.

Zu Rawls’ Abbildung 7

Indifferenzkurven können natürlich auch noch andere Gestalten annehmen als beim Utilitarismus oder bei Rawls. In seiner Abbildung 7 gibt Rawls ein Beispiel an:

Diagramm 9
Diagramm 9: Rawls’ Abbildung 7

Die Indifferenzkurven, die man hier sieht, bilden gewissermaßen einen Kompromiss zwischen den Kurven des Utilitarismus und denen von Rawls. Wie im Utilitarismus und anders als bei Rawls fallen die Kurven unterhalb der Winkelhalbierenden ab, das heißt, dass es möglich ist, die besser Gestellten auf Kosten der schlechter Gestellten weiter zu begünstigen, ohne dass sich dadurch der gesellschaftliche Zustand insgesamt verschlechtert. Rawls würde das natürlich missbilligen. Anders als im Utilitarismus sind die Indifferenzkurven allerdings keine Geraden mehr, sondern zum Ursprung hin eingedellt. Damit nähern sie sich den winkelförmigen Indifferenzkurven von Rawls etwas an. Die Eindellung bedeutet Folgendes: Man kann zwar die besser Gestellten auf Kosten der schlechter Gestellten begünstigen, ohne dass sich der gesellschaftliche Zustand verschlechtert. Allerdings ist das nur möglich, wenn die Begünstigten mehr gewinnen als die Benachteiligten verlieren. Je mehr die Begünstigten bereits haben, desto höher muss ihr Zugewinn gegenüber dem Verlust für die schlechter Gestellten sein, damit sich der gesellschaftliche Zustand nicht verschlechtert.

Anmerkungen

1 Alle Seitenzahlen beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1975 bzw. auf A Theory of Justice. Revised Edition, Cambridge, Mass. 1999. (Das den Seitenzahlen vorangestellte „d“ bzw. „e“ verweist auf die deutsche bzw. englische Ausgabe.)

2 Das Pareto-Prinzip ist unbestimmt, da es eine Mehrzahl von Zuständen als optimal (genauer: pareto-optimal) auszeichnet, ohne zwischen diesen weiter (z. B. hinsichtlich ihrer Gerechtigkeit) zu differenzieren (vgl. d91f./e61f.).

3 Vgl. auch Rawls’ Erläuterung des Unterschiedsprinzips in Gerechtigkeit als Fairness. Ein Neuentwurf (Frankfurt a. M. 2003; Justice as Fairness. A Restatement, Cambridge, Mass. 2001), § 18.

4 Grundgüter sind
Dinge, von denen man annimmt, daß sie ein vernünftiger Mensch haben möchte, was auch immer er sonst noch haben möchte. Wie auch immer die vernünftigen Pläne eines Menschen im einzelnen aussehen mögen, es wird angenommen, daß es verschiedenes gibt, wovon er lieber mehr als weniger haben möchte. Wer mehr davon hat, kann sich allgemein mehr Erfolg bei der Ausführung seiner Absichten versprechen, welcher Art sie auch sein mögen. Die wichtigsten Arten der gesellschaftlichen Grundgüter sind Rechte, Freiheiten und Chancen sowie Einkommen und Vermögen. (Ein sehr wichtiges Grundgut ist das Selbstwertgefühl; [...]). Es dürfte auf der Hand liegen, daß diese Dinge im allgemeinen als Grundgüter zu betrachten sind. Es sind gesellschaftliche Güter, da sie mit der Grundstruktur zusammenhängen; Freiheiten und Chancen werden durch die Regeln der wichtigeren Institutionen festgelegt, ebenso die Einkommens- und Vermögensverteilung. (d112/e79)
5 Obwohl O in der deutschen Übersetzung (d97) als Nullpunkt bezeichnet wird, darf O nicht als Zustand verstanden werden, in dem x1 und x2 noch keine Grundgüter besitzen; vielmehr bezeichnet O einen Zustand, in dem eine bestimmte Menge an Grundgütern gleich verteilt ist.

6 Indifferenzkurven kommen aus der Ökonomie. Dort wird mit Indifferenzkurven meist nicht die Bewertung eines gesellschaftlichen Zustands dargestellt. Vielmehr geht es darum, wie eine einzige Person Kombinationen zweier Güter bewertet. Auf der horizontalen Achse könnte etwa die Menge von Geld aufgetragen sein, die die Person besitzt, auf der vertikalen Achse könnte ihr Besitz an Schokolade aufgetragen sein. Jeder Punkt in der Zeichenebene steht nun für einen Zustand, in dem die Person eine bestimmte Menge Geld und eine bestimmte Menge Schokolade besitzt. Indifferenzkurven verbinden Punkte, die für Zustände stehen, die die Person gleich gut findet. Mit Indifferenzkurven versucht man letztlich herauszufinden, ob eine Person eine bestimmte Menge von Schokolade gegen einen gewissen Betrag von Geld tauschen würde (siehe etwa Richard G. Lipsey und K. Alec Chrystal, Economics, Oxford 2004, zehnte Auflage, Kapitel 7, S. 107–127).

7 Warum sind die Indifferenzkurven aus der Sicht des Utilitarismus Geraden? Nun, für Utilitaristen sind zwei Zustände genau dann gleich gut, wenn sie denselben Gesamtnutzen U haben. Dieser Gesamtnutzen ergibt sich aus dem Nutzen für x1, u1, und dem Nutzen für x2, u2, über die Formel: U = u1 + u2. Die Indifferenzkurven sind daher durch die Gleichung U = u1 + u2 = konstant bestimmt. Diese Gleichung kann man nach u2 auflösen und erhält u2 = U - u1, wobei U nun einen konstanten Wert hat. Mithilfe dieser Gleichung können wir die Indifferenzkurven berechnen, denn u1 und u2 beziffern ja gerade, wie gut die Aussichten für x1 und x2 sind. Unsere Gleichung für die Indifferenzkurve besagt nun, dass u2 in dem Maße abfällt, wie u1 ansteigt. Das ergibt eine Gerade mit der Steigung -1.

8 Warum sind die Indifferenzkurven nun Geraden, die weniger stark abfallen als in Abbildung 3? Nun, wenn x1 repräsentativ für n1 Personen steht und x2 repräsentativ für n2 Personen steht, dann ergibt sich der Gesamtnutzen aus dem Nutzen für jede durch x1 repräsentierte Person, u1, und dem Nutzen für jede durch x2 repräsentierte Person, u2, über die Formel: U = n1×u1 + n2×u2. Die Indifferenzkurven sind daher durch die Gleichung U = n1×u1 + n2×u2 = konstant gegeben. Diese Gleichung kann man nach u2 auflösen und erhält u2 = U÷n2 - (n1÷n2)×u1, wobei U nun einen konstanten Wert hat. Mithilfe dieser Gleichung können wir wieder die Indifferenzkurven berechnen. Wenn weniger Personen begünstigt als unbegünstigt sind (n1 < n2), erhalten wir eine Gerade, die flacher abfällt als vorher (die Steigung ist n1÷n2 und daher kleiner als 1). Anschaulich gilt Folgendes: Wenn der gesellschaftliche Zustand geändert werden soll, ohne dass sich der Gesamtnutzen ändert, und wenn wir den Begünstigten dabei etwas hinzugeben, dann muss jeder der Schlechtergestellten weniger geben, einfach weil es mehr Schlechtgestellte gibt.

9 Man beachte die Ausdrücke „genau dann“ im ersten Satz und „nur dann“ im zweiten Satz. Da nach Rawls der erste Gerechtigkeitsgrundsatz Vorrang vor dem zweiten hat, dürfen Ungleichheiten, die zu jedermanns Vorteil sind, nicht durch eine Einschränkung der im ersten Gerechtigkeitsgrundsatz geforderten gleichen Grundfreiheiten erkauft werden. Deshalb gilt: Ungleichheiten sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie zu jedermanns Vorteil sind. Ungleichheiten, die zu jedermanns Vorteil sind, sind jedoch nicht gerechtfertigt, wenn sie eine Verletzung des ersten Gerechtigkeitsgrundsatzes involvieren. Da also nicht alle Ungleichheiten, die zu jedermanns Vorteil sind, gerechtfertigt sind, gilt nicht: Ungleichheiten sind genau dann gerechtfertigt, wenn sie zu jedermanns Vorteil sind. Da Rawls aber im ersten Satz explizit voraussetzt, dass der erste Gerechtigkeitsgrundsatz erfüllt ist (indem er von Institutionen ausgeht, wie sie von der gleichen Freiheit für alle gefordert werden), kann er weiter schreiben, dass unter dieser Voraussetzung die besseren Aussichten der Begünstigten genau dann gerecht sind, wenn sie zur Verbesserung der Aussichten der am wenigsten Begünstigten beitragen.

Erstveröffentlichung am 19.09.2010